Mittwoch, 6. November 2024

WBAE: Empfehlungen für eine moderne Ernährungspolitik

Berlin. (wbae / eb) Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) hat vor wenigen Tagen seine Empfehlungen für eine nachhaltigere Ernährung vorgestellt. Das Gutachten «Politik für eine Nachhaltigere Ernährung: eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten» umfasst mit allem Drum und Dran 879 Seiten. Der Umfang erklärt sich aus dem Anspruch des Beirats, nachvollziehbar darzulegen, weshalb der WBAE für eine umfassende Neuausrichtung und Stärkung des Politikfelds Ernährung plädiert. Das vollständige Gutachten gibt es auf der BMEL-Homepage im Format PDF zum Download (879 Seiten | 20’497 KB).

Das Gutachten lässt nichts aus, was zu einem modernen Begriff von Ernährung gehört. Viele Tabellen und Grafiken unterstützen die Argumentation. Dem Wissenschaftlichen Beirat ist mit seinem Werk eine umfassende, schnörkellose und vor allem ehrliche Betrachtung gelungen, die sich zu lesen lohnt. Andererseits: Wer hat heute noch Zeit für 879 Seiten? Glücklicherweise hat der WBAE seinen Ausführungen eine Zusammenfassung vorangestellt. Diese Kurzfassung von 27 Seiten haben wir aus dem Gutachten extrahiert und auf 552 Kilobyte eingedampft. Das heißt, dass die Grafiken zwar nicht mehr gestochen scharf rüberkommen, der Text aber noch gut lesbar ist. Diesen Text sollte lesen, wer sich für Ernährungspolitik interessiert und wissen will, wohin die Reise in den kommenden Jahren gehen soll.

Während Teil 1 dieser Erörterung das Plädoyer des Wissenschaftlichen Beirats im Ganzen betrachtet, widmet sich Teil 2 konzentriert den Handlungsempfehlungen, die der WBAE der gegenwärtigen Politik an die Hand gibt – in der Hoffnung, dass 879 Seiten geballte Kompetenz nicht stillschweigend in der Versenkung verschwinden. Durch das hier gewählte Format wollen wir dazu beitragen, dass die Empfehlungen durch Suchmaschinen leicht aufzufinden und für Unterstützer einer zeitgemäßen Ernährungspolitik leicht zu zitieren sind.

Nachfolgend das Kapitel 9 des WBAE Gutachtens, das die Empfehlungen für die Ernährungspolitik zusammenfasst. Es ist sehr umfangreich, so dass wir den Ausführungen ein Inhaltsverzeichnis vorangestellt haben, anhand dessen es sich leichter zu den einzelnen Themen navigieren lässt:

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9 Auf dem Weg zu einer nachhaltigeren Ernährung: Empfehlungen

9 Auf dem Weg zu einer nachhaltigeren Ernährung: Empfehlungen

9.1 Nachhaltigere Ernährung als Transformationsherausforderung angehen

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) hat bereits 2011 auf die Notwendigkeit einer «Großen Transformation» zu mehr Nachhaltigkeit verwiesen (WBGU 2011). Ein solcher Transformationsprozess umfasst Lebensstile. Es reicht nicht aus, wenn sich nur die Produktion ändert, es muss sich auch der Konsum ändern. Änderungen des Konsums können sich nicht darin erschöpfen, dass wir effizienter produzierte Produkte konsumieren, auch Konsummuster müssen nachhaltiger werden (siehe die Problematik von Rebound-Effekten in Kapitel 7.6).

Der Ernährung kommt dabei eine wichtige Rolle zu: Die Art und Weise wie wir uns ernähren, beeinflusst wesentlich unseren individuellen Gesundheitsstatus, unsere Lebensqualität und unser Wohlbefinden (Kapitel 3 und 4.2); auch tragen viele Lebensmittel einen großen sozialen, umwelt-, klima- und tierschutzbezogenen Fußabdruck (Kapitel 4.1, 4.3, 4.4 und 4.5). Die Herausforderungen in den skizzierten Problemfeldern sind groß: Deutschland weist eine hohe Adipositasrate und daraus folgend erhebliche Gesundheitskosten auf. Verpflichtende Klima- und Umweltschutzziele werden verfehlt.

Die notwendigen Fortschritte werden nur mit einer umfassenden Transformation des heutigen Ernährungssystems erreichbar sein. Notwendig ist eine Politik, die nicht primär das einzelne Individuum als Konsument*in in die Verantwortung nimmt, sondern die Ernährungsumgebung erheblich verbessert.

Der Einfluss von Ernährungsumgebungen wird in der öffentlichen und politischen Diskussion deutlich unterschätzt, die individuelle Handlungskontrolle dagegen wesentlich überschätzt (Kapitel 3). Die hochwirksamen Einflüsse der Ernährungsumgebung sind Verbraucher*innen, aber auch politischen Entscheidungsträger*innen häufig nicht bewusst, da zumeist nur auf die Konsumphase und auf eine einzelne Essensentscheidung fokussiert wird. Deshalb wird angenommen, sich nachhaltiger und gesünder zu ernähren, sei eine «einfache» individuelle Entscheidung und somit vornehmlich eine Frage der Motivation und Selbstregulation (zum Beispiel den Apfel statt der Schokolade zu wählen). Verbraucher*innen müssen täglich sehr viele Essensentscheidungen treffen, und zwar sowohl indem sie entscheiden was, wieviel, wann, wo und mit wem sie essen (siehe die «5 W’s des Verhaltens», Kapitel 3), als auch, in dem sie in einer Umgebung, die die Aufmerksamkeit nahezu ständig aufs Essen lenkt, explizit «nein» sagen und entsprechende Verhaltensimpulse unterdrücken.

Deutschland hat in der Vergangenheit aus bestimmten kulturell-historischen Gründen (zu) viel Ernährungsverantwortung auf das Individuum und die Familie gelegt (siehe Kapitel 6.5), was in einer wenig nachhaltigen Ernährungsumwelt zu Überforderungen führt. Vor dem Hintergrund der massiven Herausforderungen ist eine engagierte Politik für eine nachhaltigere Ernährung dringend erforderlich.

Unter einer Politik für nachhaltigere Ernährung versteht der WBAE die Gesamtheit aller Maßnahmen, die zu einer nachhaltigeren Ernährung beitragen sollen. Das Gutachten adressiert vier zentrale Ziele einer nachhaltigeren Ernährung (die «Big Four»):

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Abbildung ZF-1: die «Big Four» (Quelle: WBAE).

  • Eine gesundheitsfördernde Ernährung, die zu einer höheren Lebenserwartung, mehr gesunden Lebensjahren sowie mehr Wohlbefinden und Lebensqualität für alle beiträgt (Kapitel 4.2): Gemessen an seinem Wohlstand steht Deutschland bezüglich ernährungsbezogener Gesundheitsindikatoren nur mittelmäßig da. Hinzu kommt, dass die ernährungs(mit)bedingte Krankheitslast, aber auch die (Unterstützungs-)Ressourcen für eine gesundheitsfördernde Ernährung gesellschaftlich sehr ungleich verteilt sind. Armut korreliert deutlich mit ernährungs(mit)bedingten gesundheitlichen Beeinträchtigungen.
  • Eine Ernährung, die soziale Mindeststandards entlang von Wertschöpfungsketten gewährleistet (Kapitel 4.3): In der globalen Agrarwirtschaft kommen Zwangsarbeit, Sklavenarbeit, schwerwiegende Formen der Kinderarbeit oder andere Verletzungen der Kernarbeitsnormen der ILO immer noch in erheblichem Ausmaß vor. Verbraucher (m/w/d) haben derzeit fast keine Möglichkeiten, mit ihrem Kaufverhalten Beiträge zur Verbesserung dieser Bedingungen zu leisten. Die Einhaltung von Mindeststandards ist allerdings eine Grundbedingung für einen fairen, von der Gesellschaft akzeptierten Welthandel.
  • Eine umwelt- und klimaschützende Ernährung, die zu den mittel- und langfristigen Nachhaltigkeitszielen Deutschlands passt (Nachhaltigkeitsstrategie/SDGs, Klimaschutzziele) (Kapitel 4.4): Ernährung muss und kann einen wichtigen Beitrag zum Umwelt- und Klimaschutz leisten. So induziert sie besonders über den Konsum tierischer Produkte in erheblichem Umfang klimarelevante Methan- und Lachgasemissionen in der Landwirtschaft. Die in diesem Gutachten vorgeschlagenen Maßnahmen für mehr Klimaschutz liefern gleichzeitig positive Beiträge für viele Umwelt- und Naturschutzziele.
  • Eine Ernährung, die mehr Tierwohl unterstützt und damit den sich wandelnden ethischen Ansprüchen der Gesellschaft gerecht wird (Kapitel 4.5): Der Umbau der landwirtschaftlichen Tierhaltung zu deutlich mehr Tierschutz ist ein wichtiges gesellschaftliches Ziel (WBA 2015). In den letzten Jahren sind zwar verschiedene Einzelschritte in diese Richtung erfolgt, eine umfassende Strategie, die auch die Finanzierung des notwendigen Umbaus der Nutztierhaltung umfasst und damit größere Fortschritte ermöglicht, wird politisch bisher allerdings nicht verfolgt.

Das vorliegende Gutachten nimmt diese vier Ziele integriert in den Blick. Es existieren viele Synergien, aber auch einige Zielkonflikte, was die Herausforderung noch größer macht. In der in diesem Gutachten vorgenommenen Bewertung der an Konsumentinnen und Konsumenten gerichteten Handlungsempfehlungen (Kapitel 5) bestätigt der Beirat im Grundsatz einige bereits länger diskutierte Empfehlungen, wie etwa den Konsum von tierischen Produkten und Lebensmittelabfälle zu reduzieren. Gleichzeitig differenziert, relativiert und korrigiert der Beirat jedoch auch einige verbreitet kursierende Vorstellungen (siehe Tab. 5-13 bis 5-15). So zeigt das Gutachten auf, dass neben der Reduktion des Konsums von Fleisch auch die Reduktion des Konsums anderer tierischer Produkte eine wichtige Rolle für eine nachhaltigere Ernährung spielt. Mehrwegverpackungen sind nicht durchgängig umweltfreundlicher. Regional ist aus Nachhaltigkeitsperspektive nicht immer erste Wahl. Ökoprodukte gehören in einen nachhaltigen Warenkorb; 100 Prozent Ökolandbau ist aber kein sinnvolles Nachhaltigkeitsziel.

Die Frage, was eine nachhaltigere Ernährung und damit auch eine nachhaltigere Landwirtschaft (respektive Fischerei) ausmacht, ist also schwieriger zu beantworten, als in der Öffentlichkeit vielfach vermutet und kommuniziert. Gleichzeitig sind wir als Konsumentinnen und Konsumenten derzeit mit einer unübersichtlichen Informationslage und wenig förderlichen Ernährungsumgebungen konfrontiert, die ein nachhaltigeres Einkaufen und Essen erschweren und ein Verständnis für die wichtigen Elemente einer nachhaltigeren Ernährung zum Teil unmöglich machen. Der WBAE empfiehlt im vorliegenden Gutachten, Verbraucher (m/w/d) durch die Gestaltung angemessener Ernährungsumgebungen bei der Realisierung einer nachhaltigeren Ernährung deutlich stärker als bisher zu unterstützen. Dazu gilt es erstens, solche Faktoren in den heute vorherrschenden Ernährungsumgebungen, die eine nachhaltigere Ernährung erschweren (zum Beispiel große Portionsgrößen, hohe Werbeausgaben für wenig gesundheitsfördernde Lebensmittel, allgegenwärtige Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, besonders solchen mit ungünstigen Nährwertprofilen) zu reduzieren. Dazu gilt es zweitens, mehr gesundheitsfördernde, sozial-, umwelt- und tierwohlverträgliche Wahlmöglichkeiten zu bieten, ein Erkennen nachhaltigerer Varianten zu erleichtern, einen einfacheren Zugang zu Informationen zu ermöglichen und Preisanreize zu setzen, die es naheliegender machen, die gesündere, sozial-, umwelt- und tierwohlverträglichere Wahl zu treffen.

Der WBAE bezeichnet solche Ernährungsumgebungen als fair, weil und insofern sie (1) auf unsere menschlichen Wahrnehmungs- und Entscheidungsmöglichkeiten sowie Verhaltensweisen abgestimmt sind und (2) gesundheitsfördernder, sozial-, umwelt- und tierwohlverträglicher sind und damit zur Erhaltung der Lebensgrundlagen heutiger und zukünftig lebender Menschen beitragen.

Im Umkehrschluss ist dies auch eine Kritik an einer zu starken Individualisierung der Ernährungsverantwortung. Deutschland ist nach Einschätzung vieler Studien ein EU-Land, das Ernährungsverantwortung bisher besonders stark auf der Ebene des einzelnen Menschen respektive Haushaltes (respektive der Familie) ansiedelt. Der Verweis auf die Notwendigkeit von fairen Ernährungsumgebungen impliziert also, dass eine Politik für nachhaltigere Ernährung in Deutschland deutlich mehr und eingriffstiefere Instrumente als bisher erfordert.

Auf Basis der in diesem Gutachten vorgelegten Analyse spricht der WBAE die in Abb. 9-1 dargestellten zentralen Empfehlungen für eine Politik für eine nachhaltigere Ernährung in Deutschland aus.

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Abbildung 9-1: Neun zentrale Empfehlungen für eine integrierte Politik für eine nachhaltigere Ernährung (Quelle: WBAE).

Im Folgenden werden diese zentralen, sich zum Teil überlappenden Empfehlungen kurz erläutert und in den nachfolgenden Kapiteln 9.2 bis 9.10 weiter konkretisiert. Die Größenordnung der finanziellen Implikationen wird in Kapitel 9.11 dargestellt.

  1. Systemwechsel in der Kita- und Schulverpflegung herbeiführen – «Kinder und Jugendliche in den Fokus». Kita und Schule sind wichtige Orte des Lernens und der sozialen Integration. Mit dem Ausbau der Ganztagsbetreuung sind diese zu wichtigen sozialen Lernorten für das Ernährungsverhalten von Kindern und Jugendlichen geworden. Um dieses große Potenzial im Sinne einer nachhaltigeren Ernährung zu nutzen, bedarf es besonders einer breit angelegten Qualitätsoffensive zur Schaffung fairer Ernährungsumgebungen sowie eines möglichst uneingeschränkten Zugangs aller im Ganztag betreuten Kinder und Jugendlichen. Der WBAE empfiehlt den dringend nötigen Systemwechsel hin zu einer qualitativ hochwertigen und beitragsfreien Kita- und Schulverpflegung. Eine hochwertige Kita- und Schulverpflegung sollte als Feld gesellschaftlicher Daseinsvorsorge etabliert werden (Kapitel 9.2).
  2. Konsum tierischer Produkte global verträglich gestalten – «Weniger und besser». Die Reduktion des Anteils tierischer Erzeugnisse ist der zentrale Hebel zur Senkung der Ressourcenintensität der Ernährung mit Blick auf Klimabelastung und Flächenbeanspruchung. Zugleich eröffnet diese Reduktion Chancen für mehr Tierwohl. Der WBAE empfiehlt ein umfassendes Programm zur Reduktion tierischer Produkte in der Ernährung («Weniger und besser») (Kapitel 9.3).
  3. Preisanreize nutzen – «Die Preise sollen die Wahrheit sagen», das heißt die gesellschaftlichen Kosten widerspiegeln. Die notwendige Transformation zu nachhaltigeren Konsummustern wird nicht alleine auf intrinsischer Motivation aufbauen können. Der Beirat empfiehlt, in zentralen Handlungsfeldern, wie dem Konsum tierischer Produkte und dem Konsum von zuckerhaltigen Getränken, deutliche Preisanreize für eine nachhaltigere Ernährung zu setzen. Die Umsteuerung sollte durch Entlastung einkommensschwacher Haushalte sozialverträglich gestaltet werden (Kapitel 9.4).
  4. Eine gesundheitsfördernde Ernährung für alle ermöglichen – «Ernährungsarmut verringern». Auch in einem vergleichsweise wohlhabenden Land wie Deutschland gibt es armutsbedingte Mangelernährung oder sogar Hunger. Eine Politik für eine nachhaltigere Ernährung sollte die Lebenslagen von einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen in den Blick nehmen und zielgruppenorientierte Unterstützungsangebote weiterentwickeln (Kapitel 9.5).
  5. Verlässliche Informationen bereitstellen – «Wahlmöglichkeiten schaffen». Verlässliche Informationen über die Nachhaltigkeitseigenschaften eines Produkts sind eine wesentliche Voraussetzung für einen nachhaltigeren Konsum. Der WBAE empfiehlt, möglichst verpflichtende Nachhaltigkeitslabel für Gesundheit («Nutri-Score»), Treibhausgasemissionen («Klimalabel») und das Tierwohl zu etablieren und den Bundeslebensmittelschlüssel (BLS) als grundlegende und kostenfreie Datenbank zu einem Bundesnachhaltigkeitsschlüssel für Lebensmittel auszubauen. Der Beirat empfiehlt ferner die Entwicklung eines «digitalen Ecosystems nachhaltigere Ernährung», das mobile Anwendungen und Daten für den gesamten Verhaltensprozess zur Verfügung stellt und verständlich integriert, damit Verbraucher (m/w/d) Transparenz über die Effekte ihres Handelns gewinnen können (Kapitel 9.6).
  6. Nachhaltigere Ernährung als das «New Normal» – «Soziale Normen kalibrieren». Die Ernährungsumgebung mit den verfügbaren Angeboten und Portionsgrößen kalibriert unser Wahrnehmungsfeld und was wir als normal und angemessen empfinden (soziale Norm). Soziale Normen prägen das Konsumverhalten ganz entscheidend mit. Es ist deshalb wichtig, dass die Exposition gegenüber und der Zugang zu nachhaltigeren Produkten stärker in den Blick genommen werden und zum «New Normal» der Ernährungsumgebung werden. Der WBAE empfiehlt, kleinere Portionsgrößen verfügbar zu machen sowie innovative Maßnahmen zur Verringerung respektive Vermeidung des Portionsgrößeneffektes zu erproben, den Leitungswasserkonsum zu «normalisieren» (zum Beispiel durch eine kostenlose Bereitstellung im öffentlichen Raum und der Gastronomie), die Potenziale der Reformulierung zu nutzen und Lebensmittelabfälle effizient zu reduzieren (zum Beispiel in der Gemeinschaftsverpflegung) (Kapitel 9.7).
  7. Angebote in öffentlichen Einrichtungen verbessern – «Großküchen nachhaltiger gestalten». Das Gesundheitssystem und öffentliche Einrichtungen sehen Ernährung eher als Nebenthema an. Unter einem hohen Kostendruck werden erhebliche Qualitätsdefizite in Kauf genommen und kontraproduktive Signale an die Klient*innen und in die Gesellschaft gesendet. Der WBAE empfiehlt deshalb, in der Senioren-, Krankenhaus- und Rehaverpflegung, Ernährung nicht nur aus einer versorgungspraktischen Perspektive zu betrachten, sondern eine hochwertige Qualität des Essens und der Ernährungsumgebung sicherzustellen (Kapitel 9.8).
  8. Landbausysteme weiterentwickeln und kennzeichnen – «Öko und mehr». Der ökologische Landbau ist ein vergleichsweise umweltfreundliches System, von dem auch Innovationsimpulse für die gesamte Landwirtschaft ausgehen. Er ist allerdings kein «Allheilmittel», und die häufig (zu) pauschale Gegenüberstellung von «konventionell» versus «bio» trifft nicht die Realität der Landwirtschaft mit ihren vielfältigen Betriebskonzepten. Der Beirat empfiehlt, den Ökolandbau weiter zu fördern, darüber hinaus aber auch weitere ökoeffiziente Landbausysteme zu entwickeln und für die Verbraucher*innen kenntlich zu machen (Kapitel 9.9).
  9. Politikfeld «Nachhaltigere Ernährung» institutionell weiterentwickeln – «Eine integrierte Ernährungspolitik etablieren». Um die Handlungsfähigkeit im konzeptionell noch recht jungen und stark von Interessen geprägten Politikfeld der nachhaltigeren Ernährung zu verbessern, bedarf es einer deutlich ausgebauten staatlichen Ernährungspolitik. Der WBAE empfiehlt eine umfassende konzeptionelle und institutionelle Neuausrichtung und Stärkung des Politikfeldes Ernährung, das die vier Ziele integriert in den Blick nehmen sollte. Es bedarf eines lernenden Politikansatzes mit einer übergreifenden Strategie, basierend auf langfristigen, überprüfbaren Zielen. Der notwendige Instrumentenmix sollte zielgerichtet erprobt, konsequent evaluiert und evidenzbasiert angepasst werden. Dies erfordert ein transparentes Monitoring und eine stärkere Vernetzung zwischen den Ressorts (besonders Ernährung und Landwirtschaft, Gesundheit, Umwelt) auf den verschiedenen Politikebenen, von der Kommune bis zur EU, sowie den Ausbau personeller Kapazitäten mit deutlichen Budgeterhöhungen für eine integrierte Ernährungspolitik (Kapitel 9.10).

9.2 Systemwechsel in der Kita- und Schulverpflegung herbeiführen – «Kinder und Jugendliche in den Fokus»

Unsere Ernährungsgewohnheiten und -kompetenzen werden von Lebensbeginn an durch unsere Erfahrungen geprägt (siehe Kapitel 3). Deshalb und angesichts der weithin anerkannten gesellschaftlichen Folgekosten wenig gesundheitsfördernder Ernährungsmuster (siehe Kapitel 4.2 und 6.2.1) sollte Essen und Trinken in Deutschlands Kindertageseinrichtungen und Schulen ein zentrales ernährungs- und gesundheitspolitisches Handlungsfeld sein und nicht länger eine eher randständige Pflichtaufgabe (siehe Kapitel 7.5 und 8.2). Dies erfordert, die Kita- und Schulverpflegung nicht nur aus einer versorgungspraktischen Perspektive zu betrachten, sondern eine hochwertige Qualität des Essens und der Ernährungsumgebung für Kinder und Jugendliche sicherzustellen (siehe Kapitel 7.5.1). Ein qualitativ hochwertiges Essen fördert die Gesundheit und hält die Kinder und Jugendlichen fit und aufmerksam. Gemeinsames Essen in einer fairen Essumgebung fördert neben physiologischen Funktionen (Sättigung, Nährstoffversorgung) besonders das psychische Wohlbefinden, die individuelle Leistungsfähigkeit, die Wertschätzung für Lebensmittel sowie den sozialen Zusammenhalt und die Integration. Gemeinsames Essen, das heißt eine hohe Beteiligungsrate, bildet dabei das entscheidende Fundament für die Nutzung der besonderen Potenziale der Verpflegung. Nur wenn «alle» mitmachen, hat das Ganze eine Chance.

Alle drei Aspekte – die (1) Qualität des «Was» und (2) des «Wie» Kinder und Jugendliche essen und (3) dass sie dies gemeinsam tun (Kommensalität) – weisen aus Sicht des WBAE hohe Priorität auf, da diese ineinandergreifen, das heißt sich wechselseitig beeinflussen: Ein (weitgehend) beitrags- freies Essen ist bspw. wenig zielführend, wenn nicht gleichzeitig die Qualität des Essens sowie die Qualität der konkreten Ernährungsumgebung verbessert werden. Gleichzeitig gilt: Wenn die Qualität nicht stimmt, werden nur wenige Kinder und Jugendliche das Angebot wahrnehmen und dies erhöht wiederum die Kosten je Mahlzeit und verringert die gesundheitlichen und sozialen Effekte sowie die Lerneffekte.

Der WBAE empfiehlt Bund, Ländern und Kommunen eine Neuausrichtung der Kita- und Schulverpflegung, um eine qualitativ hochwertige Kita- und Schulverpflegung zu erreichen und die Verpflegung (evidenzbasiert, schrittweise) für Eltern kostenfrei zu gestalten. Im Einzelnen empfiehlt der WBAE:

  • Evidenzbasierte, schrittweise Einführung einer beitragsfreien Kita- und Schulverpflegung (Adressat: Kommunen, Länder, Bund). Damit ein Transformationsschritt von einer randständigen «Pflichtaufgabe» zu einer wesentlichen gesellschaftlichen Aufgabe gelingt und alle Kinder und Jugendlichen einen möglichst uneingeschränkten Zugang zu einem qualitativ hochwertigen Essen haben, empfiehlt der WBAE, die Kita- und Schulverpflegung für die Eltern beitragsfrei zu gestalten (siehe Kapitel 8.2.2) und die Kosten vollständig aus öffentlichen Haushalten zu finanzieren. Nach Schätzungen des WBAE liegen die durchschnittlichen Vollkosten pro Mahlzeit zwischen zirka 4,50 Euro in Kitas und etwas über 6 Euro in Primarschulen (siehe Kapitel 8.2.3). Eine vollumfängliche Deckung der Kosten für eine Mittagsmahlzeit für alle Kinder und Jugendliche, die heute in der Ganztagsbetreuung in Kitas sind oder Ganztagsschulen besuchen, würde auf dieser Grundlage etwa 5,8 Milliarden Euro öffentliche Ausgaben pro Jahr umfassen. Als zentrales, realistisches Szenario nimmt der WBAE an, dass langfristig 80 Prozent der Schüler*innen am Ganztagsbetrieb teilnehmen und alle 3,3 Millionen Kinder in Ganztags-Kitas betreut werden. Hieraus ergäben sich perspektivisch unter der Annahme der heutigen Personenzahlen etwa 10,2 Milliarden Euro staatliche Ausgaben pro Jahr, von denen etwa 32 Prozent für die Kita-Verpflegung anfielen, 25 Prozent für die Primarschulverpflegung und 43 Prozent für die Verpflegung in Sekundarschulen. Einen Teil der Kosten für Gebäude und Ausstattung als auch die Betriebskosten trägt der Staat bereits jetzt. Seit dem 01.08.2019 haben weiterhin aufgrund des «Starke Familien-Gesetzes» respektive des Bildungs- und Teilhabepaketes zirka 4 Millionen Kinder ohnehin Anspruch auf eine kostenlose Mittagsverpflegung (siehe Kapitel 8.2.3). Nach Abzug schon heute geleisteter und in Zukunft zu leistenden Zahlungen ergäben sich somit bei einer vollständigen Umsetzung jährlich etwa 5,5 Milliarden Euro zusätzliche Ausgaben. Hinzu kommt ein Investitionsbedarf, der für das realistische Szenario bei rund 18 Milliarden Euro liegt. Wenn man davon ausgeht, dass diese Investitionen auf einen Zeitraum von 5 bis 10 Jahren verteilt werden, beträgt der Investitionsbedarf 1,8 bis 3,6 Milliarden Euro pro Jahr.Da die Umsetzung der Empfehlung einer qualitativ hochwertigen und für die Eltern kostenfreien Kita- und Schulverpflegung mit großen Herausforderungen und Kosten für die öffentliche Hand einhergeht, empfiehlt der WBAE eine schrittweise Einführung auf der Grundlage eines wissenschaftlichen Implementierungs- und Evaluierungsprogramms («WIE»-Programm, siehe Kapitel 8.2.4), das eine empirische Evaluierung der Umsetzung und der erzielten Wirkungen umfasst. Dies hat den Vorteil, dass die Implementierung und Ausgestaltung angepasst werden können (s. auch «learning-by-doing»-Ansatz, WBAE und WBW 2016). Der WBAE empfiehlt besonders eine Evaluierung der Wirkung, nicht nur der Qualität des Essens («was» gegessen wird), sondern auch der direkten Ernährungsumgebung («wie» gegessen wird) sowie des Zusammenspiels des «Was» und «Wie». Die Evaluierung sollte verschiedene Ergebnisindikatoren (Teilnahmeraten, kognitive, soziale, psychische und physische Gesundheitsindikatoren) in den Blick nehmen (siehe Kapitel 8.2.4). Interessierte Bundesländer sollten möglichst kurzfristig mit Kofinanzierung des Bundes Pilotstudien zur vollständig staatlich finanzierten Kita- und Schulverpflegung umsetzen. Die Pilotstudien sollten dabei so angelegt werden, dass sie mit Hilfe von randomisierten kontrollierten Studien auf Wirksamkeit, Implementierungsprobleme und Kosteneffizienz untersucht werden können. Die Koordination des Programms sollte beim Bund liegen, der auch für eine länderübergreifende Verwertung und Verbreitung der Forschungsergebnisse sorgen sollte. Ziel dieser Programmkomponente ist es, verschiedene Varianten der Implementierung vergleichend zu untersuchen, um daraus politikrelevante Einsichten für die weitere Ausgestaltung der Kita- und Schulverpflegung zu gewinnen.

Zur Schaffung von fairen Ernährungsumgebungen in Kita- und Schule empfiehlt der WBAE weiterhin:

  • Verbesserung des «Was» Kinder und Jugendliche essen: Verpflichtende Umsetzung der Qualitätsstandards der DGE für die Kita- und Schulverpflegung (Adressat: Länder, Kommunen, Kita- und Schulleitungen). Das Speisen- und Lebensmittelangebot (Qualität, Quantität, Auswahlmöglichkeiten) sollte den Qualitätsstandards der DGE entsprechen. Darüber hinaus sollten die Schülerinnen und Schüler verstärkt in die Gestaltung der Angebotsauswahl in den Mensen einbezogen werden (Partizipation und Empowerment). Eine Umsetzung des DGE-Standards und Partizipation würden nicht nur die Qualität des Essens und die Gesundheit verbessern, sondern könnten auch den Fleischkonsum verringern und langfristig zu einer Veränderung der sozialen Norm beitragen («weniger und besser»).
  • Verbesserung des «Wie» Kinder und Jugendliche essen: Kommensalität ermöglichen durch angemessene Räumlichkeiten und Ausstattungen sowie gemeinsame, ausreichende Essenszeiten (Adressat: Bund, Länder, Kommunen, Kita- und Schulleitungen). Damit Essen und Trinken nicht nur «satt» machen, sondern auch die grundlegenden emotionalen, sozialen und lernbezogenen Funktionen erfüllen können, ist eine qualitativ hochwertige Gestaltung der Essumgebung erforderlich. Dazu zählen gemeinsame und ausreichende Essenszeiten und angemessene Räumlichkeiten und Raumausstattungen (Akustik, Platz, Licht, Temperatur, Geruch), die soziale Interaktionen (zum Beispiel durch entsprechende Stuhl- und Tischanordnungen) ermöglichen. Mensen sollten Orte sein, zu denen Kinder und Jugendliche nicht hin müssen, weil es keine Alternativen gibt, sondern zu denen sie gerne hingehen möchten. Nur so können Wertschätzung für Lebensmittel und nachhaltigere Verhaltensweisen langfristig verankert werden.
  • Regulierung kompetitiver Verpflegungsangebote (Adressat: Länder, Kommunen, Schulträger). Private Cafeterias, Kioske und Verkaufsautomaten in den Schulen und Kitas und der unmittelbaren Schulumgebung gefährden den Erfolg einer beitragsfreien, hochwertigen Schulverpflegung und sollten deshalb im Regelfall unterbunden oder zumindest bezüglich ihrer Angebote reguliert werden.
  • Qualitative Stärkung der handlungsorientierten Ernährungsbildung (Adressat: Länder, Schulleitungen). Die Ernährungsbildung in Kita und Schule hat das große Potenzial, Ernährungsverhalten positiv zu beeinflussen. Der WBAE empfiehlt deshalb folgende Maßnahmen: Die Weiterentwicklung der schon bestehenden Curricula mittels alltagstauglicher Handlungsfelder (Essenszubereitung, Gartenbau, Schüler*innenfirmen), die Schaffung von Infrastrukturen (Lernküchen) und eine Fort- und Weiterbildung des pädagogischen Personals sowie eine Qualitätssicherung der verwendeten Medien (zum Beispiel Schulbücher). Grundsätzlich gilt hierbei: Je besser die Lebenswelt einbezogen wird und je klarer an die Erfahrungen der Zielgruppe angeknüpft wird (auch die in der eigenen Mensa), je sensibler der Umgang mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Wünschen ist, desto besser wird eine handlungsorientierte Ernährungsbildung gelingen. Die Maßnahmen sollten zielgerichtet erprobt, konsequent evaluiert und evidenzbasiert angepasst werden.
Darüber hinaus empfiehlt der WBAE:
  • Bundesinvestitionsprogramm «Top-Mensa» für einen quantitativen und qualitativen Ausbau der Kita- und Schulverpflegung auflegen (Adressat: Bund, Länder, Kommunen). Viele Ganztagskitas und -schulen haben keine Küchen und Speiseräume respektive nur solche mit unzureichender Ausstattung (siehe Kapitel 7.5.1). Deshalb besteht die Notwendigkeit einer «Anschub- finanzierung», damit eine qualitativ hochwertige Kitaund Schulverpflegung umgesetzt werden kann. Dies sollte durch ein Investitionsprogramm durch den Bund mit Eigenanteilen der Länder realisiert werden. Nach einer groben Schätzung des WBAE liegen die Investitionskosten für heutige Ganztagsschulen und Kitas mit Mittagessen bei 2,4 Milliarden Euro und bei einem möglichen Ganztagsschulanteil von 80 Prozent inklusive aller heutigen Kitas bei etwa 18 Milliarden Euro (wobei ein Teil davon bei einem Ausbau der Ganztagsschulen ohnehin anfallen würde).

9.3 Konsum tierischer Produkte global verträglich gestalten – «Weniger und besser»

Angesichts der großen internationalen Unterschiede im Fleischkonsum, der Mangelernährung in vielen Ländern des globalen Südens und der Klimaschutzherausforderungen bedeutet eine global verträgliche Ernährung einen Rückgang des hohen Konsums tierischer Produkte in wohlhabenden Ländern. Dies betrifft nicht nur Fleisch und Wurst, sondern auch den hohen Konsum von Milchprodukten. Deutschland liegt bei Fleisch und Milch um den Faktor 4 über den Empfehlungen der Eat-Lancet-Kommission. Eine Reduktion kann in Deutschland auch zu positiven Gesundheitseffekten beitragen. Gleichzeitig steigen in vielen wohlhabenden Ländern die gesellschaftlichen Ansprüche an das Tierwohl, sodass auch aus diesem Grund ein «weniger und besser» (WBA 2015) sinnvoll ist.

Die Reduktion des Konsums tierischer Erzeugnisse sollte mit einer Transformation der Nutztierhaltung hin zu höheren Tierwohlstandards einhergehen und in eine umfassende Nutztier- und Ernährungsstrategie eingebettet sein. Der WBAE empfiehlt:

  • Erarbeitung eines Programms zur Reduktion des Konsums tierischer Produkte (Adressat: Bund). Dieses Programm sollte gleichzeitig auf eine deutliche Verringerung des Konsums und auf eine verbesserte Tierhaltung zielen, die den Mehraufwand höherer Tierwohlstandards sowie positive Externalitäten extensiver Wirtschaftsweisen honoriert. Der Teil des Programms, der auf eine Reduktion des Konsums zielt, weist aus Sicht des WBAE hohe Priorität auf. Er sollte aufgrund der langfristig erheblichen wirtschaftlichen Nebeneffekte frühzeitig, aber mit der gebotenen Sorgfalt und als lernendes Programm (siehe Kapitel 8.1 und 9.10) angelegt sein.
Als wichtige Elemente eines solchen Programms empfiehlt der WBAE:
  • Abschaffung der Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes für tierische Erzeugnisse (Adressat: Bund). Der Mehrwertsteuersatz auf tierische Produkte sollte, wie bereits im Klimaschutzgutachten (WBAE und WBW 2016) empfohlen, auf den Normalsatz angehoben werden. Der hieraus resultierende Preisanreiz ist Kernelement einer «weniger und besser»-Strategie (sieheim Einzelnen Kapitel 9.4.1). Ein Teil der (nicht zweckgebundenen) Steuermehreinnahmen sollte von Bund und Ländern für den notwendigen Umbau zu einer zukunftsfähigen, tierfreundlicheren Nutztierhaltung in Deutschland verwendet werden. Perspektivisch empfiehlt der WBAE die Entwicklung einer neuen, an den zentralen Nachhaltigkeitskriterien ansetzenden Verbrauchssteuer auf Lebensmittel (siehe Kapitel 9.4.2).
  • Einführung eines verpflichtenden Klimalabels für alle Lebensmittel (Adressat: Bund) (siehe im Einzelnen Kapitel 9.6.4). Ein Klimalabel ist ein zentraler Bestandteil zur handlungsnahen Information der Bevölkerung. Die Verfügbarkeit der Informationen am Produkt würde den Konsument*innen die hohe Klimarelevanz vieler tierischer Produkte, aber auch die Klimarelevanz von per Flugzeug importierten Produkten, solchen aus konventionell beheizten Treibhäusern, bestimmten Fischen etc. transparent machen und sie in die Lage versetzen, klimafreundliche Optionen zu identifizieren. Das Label sollte als interpretatives, farblich codiertes Label (s. Nutri-Score) gestaltet sein und kann zunächst auf Standardwerten beruhen. Ambitionierte Unternehmen können dann für ihre Produkte spezifische Werte ermitteln und labeln. Klima- und Gesundheits-Apps, die für Produkte und für Mahlzeiten außer Haus verfügbar sein sollten, könnten die Transparenz und die Handlungswirksamkeit unterstützen.
  • Informationskampagne zur Problemsensibilisierung und Motivation (Adressat: Bund). Die Treibhausgasrelevanz von tierischen Produkten, auch die von Milch respektive fetthaltigen Molkereiprodukten, wird von Verbraucher*innen deutlich unterschätzt. Das BMEL sollte daher in einer Informationskampagne (dazu Kapitel 8.7, besonders Abb. 8-11) die Verbraucher*innen über die Klimarelevanz der verschiedenen Lebensmittelgruppen aufklären. In einem zweiten Schritt sollte die Kampagne zielgruppenspezifisch Verhaltensänderungen anstoßen.
  • Verpflichtende Umsetzung der Qualitätsstandards der DGE für die Gemeinschaftsverpflegung (Adressat: Bund, Länder, Kommunen). Täglich essen Millionen Menschen in von Bund, Ländern und Kommunen (teil)finanzierten Kantinen und Mensen. Damit kommt der öffentlichen Hand eine wesentliche Nachfrage- und Gestaltungsmacht zu. Eine Umsetzung des aus gesundheits- und umweltpolitischer Sicht empfohlenen DGE-Standards würde kurzfristig zu einer Verringerung des Fleischkonsums und langfristig mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu einer Veränderung der sozialen Normen beitragen («weniger und besser»).
Um unerwünschten Nebeneffekten entgegenzuwirken empfiehlt der WBAE:
  • Erhöhte Steuerlast (Mehrwertsteuer, Lenkungssteuer) sozial abfedern (Adressat: Bund). Angesichts der regressiven Wirkung einer höheren Mehrwertsteuer und von Verbrauchssteueranhebungen generell empfiehlt der WBAE, die unteren Einkommensschichten zu kompensieren (siehe Kapitel 9.5). Eine sozial verträgliche Ausgestaltung von Lenkungssteuern ist notwendig und möglich.
  • Problematische Substitutionseffekte beobachten und gegebenenfalls gegensteuern (Adressat: Bund). Die intendierte Reduktion des Konsums tierischer Erzeugnisse kann in bestimmten Gruppen mit hohem Konsum und ansonsten gesundheitlich eher ungünstigem Ernährungsverhalten zur problematischen Substitution mit unerwünschten gesundheitlichen Nebeneffekten führen (zum Beispiel durch Lebensmittel mit ungünstigem Nährwertprofil). Das BMEL sollte die Substitutionsbeziehungen beobachten (Monitoring) und gegebenenfalls gegensteuern. In ähnlicher Form sollte darauf hingearbeitet werden, dass Veganer*innen potenzielle Mikronährstoffrisiken ihres Ernährungsstils beachten.
  • Unerwünschte Nebeneffekte in der Produktion hinsichtlich Tierwohl beachten (Adressat: Bund, Länder). Effizienzsteigerungen in Tierzucht und Tierhaltung, die zur Reduktion von Treibhausgasen führen können, können in einem Zielkonflikt zum Tierschutz stehen. Geflügel weist ernährungs- und klimapolitische Vorteile gegenüber anderen Fleischarten auf und würde von einer Abschaffung der Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes als preisgünstigstes Fleischangebot profitieren. Zugleich weist die Geflügelwirtschaft durch die Intensität der Produktion erhebliche Tierschutzprobleme auf. Der Bund und die Länder sollten Zielkonflikte beachten, die Entwicklungen bei den verschiedenen Tierarten monitoren und Anstrengungen zur Verbesserung des Tierwohls unter Berücksichtigung von Klima- und Ressourcenschutzzielen unternehmen.
  • Transformationsstrategie für den Sektor erarbeiten und umsetzen (Adressat: Bund, Länder). Eine Reduktion des Konsums tierischer Erzeugnisse betrifft rund die Hälfte der Wertschöpfung der deutschen Agrar- und Ernährungswirtschaft und über die Futterproduktion auch den Ackerbau. Der Bund und die Länder sollten deshalb rechtzeitig (Förder-)Konzepte erarbeiten und umsetzen, die eine Verbesserung der Wertschöpfung ermöglichen, um Mengenreduktionen zu kompensieren. Dazu gehört die Förderung von Innovationen auf der Produktions- wie auf der Vermarktungsseite.
Darüber hinaus empfiehlt der WBAE:
  • Förderung einer nachhaltigen Aquakultur in Deutschland prüfen (Adressat: Bund, Länder). Einige Fischarten aus bestimmten Aquakulturformen können als gesündere und teilweise auch klimafreundliche Alternative zu Fleisch dienen. Im Vordergrund stehen sollten hier die Teichwirtschaft und Aquakultur-Kreislaufanlagen unter Einsatz regenerativer Energien. Bund und Länder sollten ein entsprechendes Forschungs- und Förderprogramm prüfen.

9.4 Preisanreize nutzen – «Die Preise sollen die Wahrheit sagen»

Grundlegende Transformationen können nicht allein auf intrinsischer Motivation und bewussten Entscheidungen aufbauen, dafür ist das Ernährungsverhalten zu gewohnheitsbestimmt (siehe Kapitel 3). Zur erleichterten Wahl gehören daher auch finanzielle Anreizmechanismen. International wächst die Einsicht in die Sinnhaftigkeit von Lenkungssteuern, die negative externe Effekte einpreisen (siehe Kapitel 6.2) und in diesem Sinne zu Preisen beitragen, die stärker als bisher «die Wahrheit sagen», also die tatsächlichen gesellschaftlichen Kosten abbilden, die die Produktion eines Lebensmittels verursacht. Ein zentraler Ansatzpunkt in dieser Hinsicht ist eine Nachhaltigkeitssteuer auf tierische Erzeugnisse. Auch die hohen volkswirtschaftlichen Kosten einer gesundheitlich problematischen Ernährung stellen größtenteils externe Effekte dar. Ein wichtiges Instrument in dieser Hinsicht ist eine Steuer auf zuckerhaltige Getränke. Neben Steuern können auch positive Anreize in Form von Subventionen bspw. auf Obst und Gemüse zu nachhaltigerer Ernährung beitragen. Der WBAE empfiehlt:

  • tierische Produkte stärker zu besteuern (Kapitel 9.4.1),
  • eine Steuer auf zuckerhaltige Getränke einzuführen (Kapitel 9.4.2),
  • den Konsum von Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten zu subventionieren (Kapitel 9.4.3),
  • perspektivisch eine neue Nachhaltigkeitssteuer einzuführen (Kapitel 9.4.4).

9.4.1 Mehrwertsteuerreduzierung für tierische Produkte abschaffen

Die Reduktion des Konsums tierischer Erzeugnisse wird in der internationalen Forschung relativ einhellig als zentraler Ansatzpunkt für einen nachhaltigeren Lebensmittelkonsum beschrieben. Der WBAE geht davon aus, dass eine autonome, das heißt durch Veränderung der Konsummotive und durch die Entwicklung technologischer Alternativen zu tierischen Produkten induzierte Reduktion des Konsums nicht ausreichend schnell eintreten wird.

Der WBAE empfiehlt:

  • Abschaffung der Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes für tierische Erzeugnisse (Adressat: Bund). Bisher sind die Preise für tierische Erzeugnisse durch den verringerten Mehrwertsteuersatz subventioniert, was nicht mehr zu den heutigen Herausforderungen passt. Die Subvention des Konsums tierischer Erzeugnisse durch eine Mehrwertsteuerreduktion ist aus umwelt- und klimapolitischen Gründen nicht sachgemäß. In einem ersten Schritt sollte die Mehrwertsteuerreduktion auf 7 Prozent entfallen, das heißt der Regelsteuersatz von 19 Prozent sollte für alle tierischen Produkte gelten. Die Rücknahme der Reduktion würde zu steuerlichen Mehreinnahmen in Höhe von zirka 4,3 bis 5 Milliarden Euro führen (die allerdings durch die weiteren Maßnahmen perspektivisch zurückgehen, siehe Kapitel 9.3) und den Konsum tierischer Erzeugnisse um voraussichtlich rund 6 Prozent verringern (siehe Kapitel 8.6.3).
Zur Verwendung der Steuermehreinnahmen, die aus der Mehrwertsteuer Bund, Ländern und Kommunen zustehen und nicht zweckgebunden sind, empfiehlt der WBAE, dass Bund und Länder den hierdurch entstandenen finanziellen Spielraum für eine Kombination der folgenden vier Optionen (siehe Kapitel 7.5.3 und 8.6.1) nutzen:
  • Steuerrückzahlung im Sinne einer Nachhaltigkeitsprämie (Adressat: Bund, Länder). Angesichts der regressiven Wirkung der Verbrauchssteueranhebung empfiehlt der WBAE, die unteren Einkommensschichten zu kompensieren (siehe Kapitel 8.6 und besonders Kapitel 9.5). Wenn die einkommensschwächsten 40 Prozent der Bevölkerung in der Höhe der durch die Mehrwertsteuererhöhung durchschnittlich induzierten Mehrausgaben von rund 50 Euro/Person und Jahr kompensiert werden sollen, so würde sich dies auf insgesamt etwa. 1,6 Milliarden Euro pro Jahr summieren (Thöne et al. 2019).
  • Mehrwertsteuersenkung für Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte (Adressat: Bund). Eine Absenkung der Mehrwertsteuer für gesundheitsförderliche Erzeugnisse wie Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte von 7 auf 5 Prozent führt bei zirka 24,6 Milliarden Umsatz von Obst und Gemüse (Statistisches Bundesamt 2016) zu einem Steuerrückgang um rund 460 Millionen Euro von 1,61 auf 1,15 Milliarden Euro (ohne Hülsenfrüchte, siehe Kapitel 9.4.3).
  • Verwendung für den Tierschutz (Adressat: Bund, Länder). Die Umsetzung der vom WBAE (2015) formulierten neun Leitlinien für eine tierwohlorientierte, gesellschaftlich akzeptierte Nutztierhaltung verursacht dauerhaft deutlich höhere Produktionskosten (zirka 3-5 Milliarden Euro jährlich), die nicht allein von privatwirtschaftlichen Programmen wie der Initiative Tierwohl oder höheren Erlösen durch Label gedeckt werden können (siehe Kapitel 8.9.4). Aus diesem Grund ist es für die notwendige Verbesserung des Tierwohls in einer offenen Volkswirtschaft sinnvoll, eine langfristige staatliche Tierwohlförderung zum Ausgleich der Mehrkosten vorzusehen (siehe auch Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung 2020).
  • Verwendung für eine qualitativ hochwertige und beitragsfreie Kita- und Schulverpflegung (Adressat: Bund, Länder, Kommunen). Angesichts der hohen Verbraucherausgaben für tierische Lebensmittel könnten Steuererhöhungen, besonders wenn sie über eine Mehrwertsteuerangleichung hinausgehen (siehe Kapitel 9.4.4), einen beachtlichen Beitrag zu der in diesem Gutachten vorgeschlagenen qualitativ hochwertigen und beitragsfreien Kita- und Schulverpflegung leisten.

9.4.2 Eine Steuer auf zuckerhaltige Getränke einführen

Eine Reduktion des Konsums von zuckerhaltigen Getränken ist eine wichtige Strategie zur Prävention und Kontrolle von Adipositas und ernährungsmitbedingten Krankheiten (Kapitel 9.7.2). Da eine zielgerichtete Besteuerung des Reduktionsziels die Wirkung verbessert und verteilungspolitisch unerwünschte Nebeneffekte gegenüber einer preisbezogenen Verbrauchssteuer oder einer Mehrwertsteuererhöhung verringert (siehe Kapitel 8.6.2 und 9.4), empfiehlt der WBAE dem BMEL die Einführung einer neuen, spezifischen Steuer auf Basis des Gehalts an freiem Zucker.

Der WBAE empfiehlt:

  • Alle zuckerhaltigen Getränke erfassen (Adressat: Bund). Es sollten möglichst alle Getränkearten inklusive Mixgetränke (auch Milchmischgetränke) erfasst werden, die freie Zucker enthalten, um ungünstige Substitutionsprozesse zu vermeiden.
  • Linear besteuern und stufenweise erhöhen (Adressat: Bund). Die Besteuerung sollte linear mit dem Zuckergehalt verlaufen, um durchgängige Verbesserungsanreize auch für weniger gezuckerte Produkte zu setzen. Der Beirat schlägt vor, mit einem Steuersatz von 20 Cent/100 g Zucker (freier Zucker) zu beginnen und diesen dann stufenweise zu erhöhen. Bei einem unveränderten Konsum und unveränderten Rezepturen würde dies eingangs zu Steuermehreinnahmen bei Softdrinks und Fruchtsäften von zirka 1,89 Milliarden Euro pro Jahr führen; wenn Milchmixgetränke einbezogen würden, entsprechend höher (siehe Kapitel 8.6.2). 495 Konsum- und Rezepturänderungen sind aber intendiert und nach den Erfahrungen aus Großbritannien auch in erheblichem Umfang zu erwarten. Die tatsächlichen Steuermehreinnahmen wären daher geringer.
  • Verwendung der Steuereinnahmen für gesundheitsbezogene Subventionen (Adressat: Bund). Der WBAE empfiehlt, die zu erwartenden Steuereinnahmen für die Subventionierung des Konsums von Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten (siehe Kapitel 9.4.3) zu verwenden sowie darüber hinaus (zum Beispiel mittels einer Nachhaltigkeitsprämie) an einkommensschwache Teile der Bevölkerung in Deutschland zurückzugeben (siehe Kapitel 9.5).
  • Erhöhung der Alkoholsteuer prüfen (Adressat: Bund). Der WBAE empfiehlt dem Bund, eine Erhöhung der Alkoholsteuer ins Auge zu fassen, da besonders Bier ein Substitutionsprodukt zu Softdrinks ist. Eine Erhöhung der Alkoholsteuer hätte weitere positive gesundheitliche Nebeneffekte. Mindestens wäre aber das tatsächliche Substitutionsverhalten eng zu monitoren und beim Auftreten entsprechender Effekte gegenzusteuern.

9.4.3 Subventionierung des Konsums von Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten

Der Konsum von Obst und besonders Gemüse einschließlich Hülsenfrüchte liegt in Deutschland deutlich unterhalb der Empfehlungen der DGE und anderer wissenschaftlicher Fachgesellschaften. Im EU-weiten Vergleich ist er gerade bei Männern niedrig. Angesichts der gesundheitsförderlichen Wirkungen des Konsums von Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten und der Umweltvorteile der Produktkategorie empfiehlt der WBAE:

  • Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes für Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte (Adressat: Bund). Eine Absenkung des Mehrwertsteuersatzes bei Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte von 7 auf 5 Prozent führt ohne Betrachtung von Konsumveränderungen bei zirka 24,6 Milliarden Umsatz von Obst und Gemüse (Statistisches Bundesamt 2016; Hülsenfrüchte aufgrund der geringen Konsumhöhe von nur 1,5 kg/Person/Jahr ausgeblendet) zu einem jährlichen Steuerrückgang von rund 460 Millionen Euro (von 1,61 auf 1,15 Milliarden).

9.4.4 Perspektivisch eine Nachhaltigkeitssteuer für alle Lebensmittel einführen

Allein mit dem Abbau der Subventionierung tierischer Produkte durch den veränderten Mehrwertsteuersatz werden die Empfehlungen (zum Beispiel der DGE und vieler weiterer wissenschaftlicher Gremien) zur deutlichen Verringerung des Konsums tierischer Erzeugnisse nicht erreicht – dies gilt voraussichtlich auch dann, wenn die in Kapitel 9.3 vorgeschlagenen, weiteren Maßnahmen parallel umgesetzt werden. Vergleichbares trifft auf die Förderung des Konsums von Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten zu. Hinzu kommt, dass Veränderungen der Mehrwertsteuer als wertbezogener Steuer nicht besonders zielgenau sind (siehe Kapitel 8.6). Daher empfiehlt der WBAE:

  • Perspektivisch die Einführung einer spezifischen Lenkungssteuer auf alle Lebensmittel (Adressat: Bund). Um den Konsum von Lebensmitteln insgesamt hin zu nachhaltigeren Produkten zu lenken, empfiehlt der WBAE, perspektivisch eine spezifische, nach dem Grad der Nachhaltigkeit gestaffelte Lenkungssteuer auf Lebensmittel einzuführen. Da eine umsatzbezogene Besteuerung verhältnismäßig teure, aus Nachhaltigkeitsperspektive jedoch oft vorzugswürdige Produkte (zum Beispiel tierfreundliche) besonders stark verteuern würde, wäre eine mengenbezogene Besteuerung zu prüfen. Als Denkmodell empfiehlt der WBAE eine Besteuerung auf Basis der Eingruppierung der Lebensmittel in verschiedene (obligatorische) Nachhaltigkeitslabel (siehe Kapitel 8.6.4). Gemäß diesem Modell wird eine Verbrauchssteuer in Abhängigkeit von der Bewertung eines Lebensmittels hinsichtlich der verschiedenen Labeldimensionen (Nährwert, Klimaschutz, Tierschutz) erhoben. Eine solche Nachhaltigkeitssteuer sollte dann an die Stelle der oben diskutierten einzelnen Lenkungssteuern treten.

9.5 Eine gesundheitsfördernde Ernährung für alle ermöglichen – «Ernährungsarmut verringern»

Ernährungsarmut, das heißt eine armutsbedingte Mangelernährung bis hin zu Hunger, und die damit einhergehenden eingeschränkten soziokulturellen Teilhabemöglichkeiten sind in einem wohlhabenden Land wie Deutschland ein bisher kaum beachtetes Problem. Dennoch gibt es sie, wie insbesondere qualitative Studien zu dem ernährungsbezogenen Konsumverhalten in Armutshaushalten oder von Tafel-Nutzer*innen eindrücklich zeigen (siehe Kapitel 4.2.3). Auch wenn aufgrund fehlender Daten das Ausmaß und die Ausprägungen von Ernährungsarmut in Deutschland nicht vollständig eingeschätzt werden können, sieht der WBAE dringenden, über das Sozialstaatsprinzip gerechtfertigten Handlungsbedarf.

Um den Zugang zu einer gesundheitsfördernden Ernährung für alle zu ermöglichen, empfiehlt der WBAE:

  • Kosten einer gesundheitsfördernden Ernährung in der Berechnung staatlicher Grundsicherungsleistungen adäquat berücksichtigen (Adressat: Bund). Wie in Kapitel 4.2.3 erläutert, reichen die Regelbedarfe in der Grundsicherung ohne das Vorhandensein weiterer Unterstützungsressourcen nicht aus, um eine gesundheitsfördernde Ernährung zu ermöglichen. Der WBAE empfiehlt der Bundesregierung daher, die Berechnungsmethodik für die Bedarfsermittlung so anzupassen, dass die Grundsicherungsleistungen eine gesundheitsfördernde Ernährung ermöglichen.
  • Qualitativ hochwertige, beitragsfreie Kita- und Schulverpflegung schrittweise und evidenzbasiert einführen (Adressat: Bund, Länder, Kommunen) (siehe Kapitel 9.2). Kita und Schule sind mit dem Ausbau der Ganztagsbetreuung zu wichtigen sozialen Lernorten für das Ernährungsverhalten von Kindern und Jugendlichen geworden. Um dieses wertvolle Potenzial im Sinne einer nachhaltigeren Ernährung zu nutzen, bedarf es staatlicher Steuerungsimpulse und insbesondere einer breit angelegten Qualitätsoffensive sowie eines möglichst uneingeschränkten Zugangs aller im Ganztag betreuten Kinder und Jugendlichen. Überproportional positive Effekte sind für die über zwei Millionen Kinder und Jugendliche aus besonders einkommensschwachen Haushalten zu erwarten (siehe Kapitel 8.2.2).

Um unerwünschte negative Effekte einer Politik für nachhaltigere Ernährung auf einkommensschwache Bevölkerungsgruppen zu vermeiden, empfiehlt der WBAE:

  • Lenkungssteuern sozial abfedern (Adressat: Bund) (siehe Kapitel 8.6 und 9.4). An Nachhaltigkeitskriterien ausgerichtete Lenkungssteuern in zentralen Handlungsfeldern sind aus Sicht des WBAE ein wichtiges ernährungspolitisches Instrument. Einkommensschwache Haushalte sind von Preisanreizen besonders betroffen, da sie einen größeren Anteil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben als Haushalte mit höherem Einkommen. Aus diesem Grund sollten Lenkungssteuern nur in Kombination mit einer sozialen Abfederung eingeführt werden. Die Ausgestaltung dieser sozialen Abfederung kann auf unterschiedlichen Wegen erfolgen, die sich im Hinblick auf Verteilungswirkung, Zielgenauigkeit und Verwaltungsaufwand unterscheiden. Optionen sind zum Beispiel (a) eine direkte Zahlung an untere Einkommensgruppen, die einheitlich oder degressiv gestaffelt oder nur an die unteren Einkommensgruppen gezahlt würde, sowie (b) die Reduktion des Einkommensteuersatzes für untere Einkommensgruppen verbunden mit einer Erhöhung von Sozialleistungen, um auch Gruppen zu erreichen, die keine Einkommensteuer bezahlen. Im Weiteren wird in Kapitel 9.11 davon ausgegangen, dass die Kompensation für die verschiedenen Lenkungssteuern durch eine jährliche Nachhaltigkeitsprämie in Höhe von 50 Euro/Person/Jahr für die einkommensschwächsten 40 Prozent der Bevölkerung erfolgt, was zu staatlichen Mehrausgaben von 1,6 Milliarden Euro pro Jahr führen würde. Dieser Betrag stellt eine grobe Näherung dar, da die präzise Berechnung einer vollständigen Kompensation abhängig vom Konsum- und Substitutionsverhalten dieser Einkommensgruppe ist.
  • Ernährungspolitischen Instrumenten-Mix grundsätzlich hinsichtlich seiner Auswirkungen auf einkommensschwache Haushalte überprüfen (Adressat: Bund). Viele der in diesem Gutachten diskutierten und vom WBAE empfohlenen ernährungspolitischen Instrumente haben intendierte und gegebenenfalls auch nicht intendierte Auswirkungen (bspw. Preiserhöhungen) auf die Konsum- und Teilhabemöglichkeiten von einkommensschwachen Haushalten. Der WBAE empfiehlt dem BMEL, bei der Evaluierung von ernährungspolitischen Maßnahmen grundsätzlich die Wirkungen auf Haushalte zu berücksichtigen, die ein erhöhtes Risiko der Ernährungsarmut aufweisen. Dies gilt besonders für das in Kapitel 9.2 vorgeschlagene wissenschaftliche Implementierungs- und Evaluierungsprogramm («WIE»-Programm, siehe Kapitel 8.2.4) zur Einführung einer beitragsfreien Kita- und Schulverpflegung.
Darüber hinaus empfiehlt der WBAE:
  • Monitoring zur Ernährungsarmut verbessern (Adressat: Bund, Länder). Der WBAE sieht dringenden Handlungsbedarf für die Verbesserung der empirischen Evidenz über Ernährungsarmut und die Wirksamkeit von Instrumenten zu ihrer Bekämpfung. Dazu sollten sowohl vorhandene Datenquellen besser zugänglich gemacht und genutzt als auch zusätzliche Daten erhoben werden. So liefern groß angelegte Bevölkerungsstudien wie die Nationale Verzehrsstudie (NVS II), die DEGS und die KIGGS-Studie zwar wertvolle Daten zur Ernährungssituation der Bevölkerung, eine spezifische Analyse der Ernährungssituation von besonders einkommensschwachen Personen erfolgt jedoch nicht. Um mehr über die Bestimmungsgründe und Ausmaße der materiellen und sozialen Deprivation von Haushalten im Bedürfnisfeld Ernährung zu erfahren, empfiehlt der WBAE der Bundesregierung, eine Auswertung nach Einkommensklassen durchführen zu lassen. Darüber hinaus könnten weitere, bereits vorhandene Daten in diesem Sinne nutzbar gemacht werden (bspw. die Schuleingangsuntersuchungen), und gegebenenfalls sind weitere, zielgruppenspezifische Erhebungen durchzuführen. Nicht zuletzt sollte die Bundesregierung sich dafür einsetzen, dass der Zugang zu den Primärdaten dieser Studien für andere wissenschaftliche Untersuchungen erleichtert wird.

9.6 Verlässliche Informationen bereitstellen – «Wahlmöglichkeiten schaffen»

Eine Politik für eine nachhaltigere Ernährung, die auf die Motivation der Verbraucher (m/w/d) setzt, erfordert eine im Vergleich zu heute deutlich bessere Informationsinfrastruktur. Bei ganz wesentlichen Nachhaltigkeitseigenschaften fehlen verlässliche Informationen am und über das Produkt (siehe Kapitel 8.7 und 8.9). Werbung, moderne Informationsmedien und digitale Anwendungen sind oft fragmentiert, nur begrenzt nutzerfreundlich und wenig auf nachhaltigere Wahlmöglichkeiten ausgerichtet. Die staatliche Informationspolitik ist zu schwach ausgestattet. Der Beirat empfiehlt deshalb die folgenden Bausteine einer Informationspolitik für eine nachhaltigere Ernährung:

  • Staatliche, möglichst verpflichtende, interpretative Label für die zentralen Nachhaltigkeitsdimensionen (Kapitel 9.6.1 – 9.6.5).
  • Eine nachhaltigere Gestaltung von Werbeumgebungen, in dem (social) influencing – vor allem bezüglich der Zielgruppe Kinder und Jugendliche – eingeschränkt, und dort, wo es weiterhin zulässig ist, transparenter gestaltet wird (Kapitel 9.6.6).
  • Die Entwicklung und den Ausbau von modernen Informationsmedien (besonders Apps) zu einem «digitalen Ecosystem nachhaltigere Ernährung» (siehe Kapitel 8.10), das einen einfachen, vernetzten und auf verlässlichen Daten beruhenden Informationszugang von der Exposition bis zum Konsum ermöglicht (Kapitel 9.6.7).

9.6.1 Eine wirksame Label-Politik entwickeln

In Kapitel 8.9 dieses Gutachtens werden zentrale Problemfelder des bisherigen Nachhaltigkeitslabellings herausgearbeitet: Für wesentliche Nachhaltigkeitsfragen wie den Umwelt- und Klimaschutz sowie Sozialstandards fehlen Label fast gänzlich. Eine Vielzahl unbekannter, häufig wenig intuitiver und z. T. irreführender und kleinteiliger Label erschwert die Markttransparenz. Im Ergebnis führt dies zu geringen Nachhaltigkeitswirkungen der vorhandenen Label, die weit hinter den Erwartungen zurückbleiben und damit zu einer Demotivation bei engagierten Unternehmen und Verbraucher*innen beitragen.

Vor diesem Hintergrund schlägt der WBAE perspektivisch eine grundsätzliche Umgestaltung der Labelpolitik vor, die zu einer besseren Verständlichkeit der Zeichen und einer höheren Wirkung beitragen soll. Der Beirat empfiehlt:

  • Staatliche, möglichst verpflichtende, interpretative Label für die zentralen Nachhaltigkeitsdimensionen (Adressat: Bund) (siehe Kapitel 9.6.2 – 9.6.5).
  • Entwicklung EU-weiter Nachhaltigkeitslabel voranbringen (Adressat: Bund). Die Bundesregierung sollte ihre Anstrengungen zur Entwicklung von EU-weiten Nachhaltigkeitslabeln verstärken (siehe Kapitel 8.9.3) und zum Beispiel ihre Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 nutzen, um EU-weite Label für die Felder erweiterte Nährwertkennzeichnung, Tierschutz und Klimaschutz voranzutreiben. Das BMEL könnte diesen Prozess auf EU-Ebene durch ein Strategiepapier «Food-Labelling» und eine entsprechende Strategiekonferenz in Brüssel fördern. Falls dies nicht gelingt, sollte die national verbindliche Einführung für inländische Unternehmen geprüft werden. Eine verpflichtende Kennzeichnung ist besonders bei interpretativen (bewertenden) Labeln wichtig, da im Markt negative Produktbewertungen typischerweise nicht freiwillig erfolgen. Aus dem gleichen Grund müssen für verpflichtende Kennzeichnungen Regeln zur Platzierung und zur Mindestgröße der Label erfolgen.
  • Nationale Initiative für ein Klimalabel anstoßen (Adressat: Bund). Ein EU-weites Label wird typischerweise nur dann entstehen, wenn auf nationaler Ebene entsprechende Initiativen vorliegen. Dies ist bei den Themen Tierschutz und erweiterte Nährwertkennzeichnung der Fall. Beim Klimalabel sollte das BMEL eine nationale Initiative anstoßen und dabei Bündnisse mit EU-Mitgliedstaaten wie Dänemark eingehen, in denen es solche Initiativen bereits gibt.
  • Labelflut durch zusammenfassende Label verringern (Adressat: Bund). Das BMEL sollte zusammenfassende, interpretative Label zur Verringerung der «Labelflut» verwenden und fördern. Diese sollten angesichts der komplexen Realität mehrstufig angelegt sein. Bereits in seinem Gutachten «Politikstrategie Food-Labelling» (WBVE und WBA 2011) hat der Beirat für zentrale Vertrauenseigenschaften (Gesundheit, Umweltstandards, Tierschutz, ethische Aspekte) ein Dachlabel vorgeschlagen, in dem die verschiedenen Dimensionen in einem mehrstufigen Bewertungsansatz getrennt ausgewiesen werden. Durch ein solches Dachlabel könnte eine leichtere Erkennbarkeit des Zeichens gewährleistet werden.
  • Einheitliches Design für staatliche Food Label festlegen (Adressat: Bund). Das BMEL sollte für vorhandene und neue zu entwickelnde staatliche Food Label ein einheitliches Design festlegen und die Systematik der verschiedenen Label aufeinander abstimmen, damit Verbraucher (m/w/d) staatliche Label besser erkennen und Vertrauen aufbauen können (Dachlabelkonzept). Als wesentliches Element einer Vereinheitlichung empfiehlt der WBAE die Nutzung der Signalfarben grün/gelb/rot. Die EU-Energiekennzeichnung unter anderem für Haushaltsgeräte und PKWs und der für das Jahr 2020 in Deutschland vorgesehene Nutri-Score könnten hier als Design-Blaupause dienen. Das kommende staatliche Tierschutzlabel sollte daran angepasst werden.
  • Staatliche Label vor anlehnenden Begriffen und Zeichen schützen (Adressat: Bund). Das BMEL sollte Mindeststandards für die Verwendung bestimmter Nachhaltigkeits-Claims im Marketing setzen und dadurch den Verbraucher*innen einen Schutz vor irreführenden (anlehnenden) Begriffen bieten.
  • Bekanntheitsgrad von und Vertrauen in staatliche(n) Label(n) durch staatliche Informationskampagnen fördern (Adressat: Bund). Angesichts des Kollektivgutcharakters von Labeln sollte der Bund durch breite Informationskampagnen Bekanntheitsgrad und Vertrauen für die staatlichen Label aufbauen. Der WBAE unterstützt deshalb eine Informationspolitik, wie sie vom BMEL für das geplante staatliche Tierwohllabel vorgesehen ist, das heißt die Bereitstellung eines umfangreichen Kommunikationsbudgets (hier im Umfang von knapp 70 Millionen Euro, siehe Kapitel 8.7). Das BMEL sollte das Vertrauen in Label durch verbesserte Kontrollverfahren der Zertifizierung von Labelnutzern erhöhen.
  • Methodenentwicklung und Datenerhebungen durch Beauftragung einer (staatlichen) Institution verstärken (Adressat: Bund, Länder). BMEL und BMBF sollten die Validität der Label verbessern, in dem die Anstrengungen zur Methodenentwicklung erheblich verstärkt werden. Dies betrifft Methoden des Life Cycle Assessments insgesamt und des Klimalabellings im Speziellen, gilt aber auch für Nachhaltigkeitsdimensionen wie Biodiversität und soziale Aspekte, für die noch keine ausgearbeiteten Konzepte vorliegen. Bund und Länder sind gefordert, die Voraussetzungen für eine angemessene Datenerhebung zu verbessern.
  • Valide, integrierte Open-access-Datenbasis («Bundesnachhaltigkeitsschlüssel») schaffen (Adressat: Bund). Als Grundlage für die Entwicklung von Labeln, informationsbasierten digitalen Anwendungen (zum Beispiel Apps) wie auch eines «digitalen Ecosystems nachhaltigere Ernährung» (siehe Kapitel 9.6.7) ist es essentiell, dass mehr validierte und hochwertige, allgemein zugängliche Datenbanken zur Verfügung gestellt werden. Der WBAE empfiehlt dem BMEL deshalb, den Bundeslebensmittelschlüssel (BLS) als grundlegende und kostenfreie Datenbank weiter zu einem «Bundesnachhaltigkeitsschlüssel» auszubauen und Daten zur Klimabelastung und auch weitere Nachhaltigkeitsdaten aufzunehmen sowie die entsprechende Infrastruktur bereitzustellen. Auf Basis einer solchen staatlich finanzierten Dateninfrastruktur könnten dann Unternehmen und andere Einrichtungen entsprechende Anwendungen entwickeln.
Vor dem Hintergrund dieser generellen Empfehlungen folgen nachstehend spezifische Empfehlungen im Hinblick auf die verschiedenen Nachhaltigkeitsfelder.

9.6.2 Ein gesundheitsbezogenes Label einführen

Der WBAE sieht einen Bedarf für ein zusammenfassendes, interpretatives Bewertungssystem. Das Nutri-Score-Label wird in wissenschaftlichen Studien als das am einfachsten verständliche System mit dem größten Gesundheitsimpact bewertet. Eine vollständige Kennzeichnung aller (verarbeiteten) Lebensmittel hätte deutlich bessere Effekte als eine freiwillige und damit selektive Kennzeichnung von Lebensmitteln, da nur so zwischen verschiedenen Produkten und insbesondere innerhalb einer Produktgruppe sinnvoll differenziert werden kann. Für verarbeitete Lebensmittel in Deutschland konnte gezeigt werden, dass mittels Nutri-Score nicht nur zwischen Produkten (z.B. zwischen zuckerhaltigen Snacks und Produkten aus Obst oder Gemüse), sondern auch innerhalb von Produktkategorien differenziert wird und eine gute Übereinstimmung mit den Empfehlungen der DGE besteht (Szabo de Edelenyi et al. 2019). Da die notwendigen Informationen zur Bewertung von Lebensmitteln mittels der bereits jetzt verpflichtenden Nährwert- und Zutatenangaben vorliegen, sind die Kosten des Nutri-Scores für die Wirtschaft gering, auch im Falle einer verpflichtenden Kennzeichnung. Der Nutri-Score kann derzeit nur für verarbeitete respektive verpackte Produkte und nicht für besonders nachhaltige unverpackte Rohprodukte wie zum Beispiel Obst und Gemüse, Hülsenfrüchte oder Nüsse verwendet werden.

Derzeit kann und wird mit Health-Claims auch für solche Lebensmittel geworben, die insgesamt wenig gesundheitsfördernd sind. Die ursprünglich in der EU-Health-Claims-Verordnung (Art. 4) vorgesehenen Nährwertprofile, in denen die Nutzung von Health-Claims auf Produkte begrenzt wird, die bestimmte Ober- oder Untergrenzen für spezifische Nährstoffe einhalten, wurden bisher in der EU nicht umgesetzt. Health-Claims laufen damit Gefahr, in besonders starkem Maße Health-Halo-Effekte und damit Wahrnehmungsverzerrungen bei den Konsumentinnen und Konsumenten auszulösen. Mit einer stärkeren Regulierung des gesundheitsbezogenen Labellings wächst die Gefahr, dass Hersteller von Lebensmitteln, die negativ eingestuft sind, Ausweichstrategien im Marketing nutzen.

Der WBAE empfiehlt:

  • Einführung des Nutri-Scores in Deutschland weiter voranbringen (Adressat: Bund, Wirtschaft). Der WBAE unterstützt den Entschluss des BMEL, den Nutri-Score nach § 36 Lebensmittel-Informationsverordnung als System der erweiterten Nährwertkennzeichnung der Wirtschaft zur Nutzung in Deutschland zu empfehlen und seine Verbreitung zu fördern (Entwurf der ersten Verordnung zur Änderung der Lebensmittel-Informations-Durchführungsverordnung des BMEL vom 21.11.2019). Das BMEL sollte den Nutri-Score in eine umfassende gesundheitsbezogene Ernährungskommunikation einbinden und kontinuierlich weiterentwickeln. Die Wirtschaft sollte den Nutri-Score möglichst flächendeckend nutzen, nicht nur für positiv bewertete Artikel.
  • EU-weite verbindliche Einführung des Nutri-Scores vorantreiben (Adressat: Bund, EU). Das BMEL sollte die weitere Verbreitung in der EU unterstützen und sich für eine verpflichtende Kennzeichnung einsetzen, da eine freiwillige Kennzeichnung gerade bei Herstellern wenig gesundheitsfördernder Lebensmittel kaum zu erwarten ist. Dazu sollte das BMEL auf eine Novellierung der Lebensmittel-Informationsverordnung hinwirken (Überarbeitung des Art. 39 LMIV). Das BMEL sollte die deutsche Ratspräsidentschaft in 2020 (wie angekündigt) für eine solche Initiative nutzen. Für den Fall, dass eine EU-weite verbindliche Lösung nicht möglich ist, sollte das BMEL eine nationale Verbreitung mittels Selbstverpflichtung der Wirtschaft anstreben oder eine verpflichtende Einführung auf nationaler Ebene für inländische Hersteller vorsehen.
  • Validität des Nutri-Scores durch Forschung weiter verbessern (Adressat: Bund). BMEL und BMBF sollten Forschung mit dem Ziel einer weiteren Verbesserung der Validität des Nutri-Score-Systems fördern. Zur Umsetzung solcher Verbesserungen wäre es sinnvoll, dass die Regularien zukünftig europäisch festgelegt werden. Weiterhin sollte geprüft werden, inwieweit sich der Nutri-Score mittelfristig auch auf den Außer-Haus-Bereich übertragen lässt.
  • Vorzugswürdigkeit vieler nicht im Nutri-Score erfasster unverarbeiteter Rohprodukte betonen (Adressat: Bund, Wirtschaft). Das BMEL sollte in einer begleitenden Informationskampagne die Konsumentinnen und Konsumenten auf die besondere Vorzugswürdigkeit unverarbeiteter Rohprodukte (zum Beispiel Hülsenfrüchte, Nüsse, Obst und Gemüse) hinweisen. Die rechtlichen Möglichkeiten, den Nutri-Score für unverarbeitete Rohprodukte umfassend im Marketing des Einzelhandels nutzen zu können, sollten verbessert werden (Art. 30 ff. LMIV).
  • Nutzung von Health-Claims auf Produkte mit positiver Gesundheitsbewertung laut Nutri-Score beschränken (Adressat: Bund, EU). Der WBAE empfiehlt dem BMEL, eine Novellierung der EU-Health-Claims-Verordnung voranzutreiben, damit mit der Einführung des Nutri-Scores die Nutzung von Health-Claims auf Produkte mit positiver Gesundheitsbewertung (A und B) beschränkt wird. Für diese gesundheitsfördernden Produkte könnte im Gegenzug über eine weniger aufwändige Umsetzung der Health-Claims-Regulierung nachgedacht werden.
  • Zur Angabe des Nutri-Scores in der Lebensmittelwerbung verpflichten (Adressat: Bund). Der WBAE empfiehlt der Bundesregierung die Einführung einer wettbewerbsrechtlichen Sonderregelung, die die verpflichtende Angabe des Nutri-Scores in der Lebensmittelwerbung vorsieht (Ausnahme: Produkte, für die kein Nutri-Score möglich ist, zum Beispiel Frischobst). Dies trägt auch zum Kinderund Jugendschutz bei, denn ein nicht unerheblicher Teil der Werbeexposition von Kindern und Jugendlichen erfolgt über nicht kinderspezifische Sendungen (siehe Kapitel 9.6.6).
  • Nutzung von «Wohlfühl-Labeln» und «Wohlfühl-Claims» beobachten und gegebenenfalls unterbinden (Adressat: Bund, Länder). Bund und Länder sollten die Nutzung von «Wohlfühl-Labeln» und «Wohlfühl-Claims» (Marketingbegriffe und Zeichen, die indirekt auf Gesundheit Bezug nehmen und rechtlich nicht geregelt sind) intensiv beobachten und problematische Ausweichstrategien bei nicht gesundheitsfördernden Produkten (laut Nutri-Score) gegebenenfalls stärker unterbinden.

9.6.3 Mindeststandards im Sozialbereich sicherstellen und Fairnessge-sichtspunkte labeln

Bezüglich der sozialen Dimension der nachhaltigen Ernährung lassen sich eine Schutzperspektive (soziale Mindeststandards) und eine Gerechtigkeitsperspektive (Verringerung sozialer Ungleichheit) unterscheiden. Es gibt in Deutschland für das Erreichen von Schutzzielen eine weitreichende Arbeits- und Sozialgesetzgebung, jedoch auch Hinweise auf Defizite in der Umsetzung, vor allem beim Einsatz von Saisonarbeitskräften, in der Gastronomie und im Bereich der Schlachtindustrie. International wurden zur Umsetzung der Schutzperspektive die Kernarbeitsnormen der ILO entwickelt, die auch vielen Systemen der Nachhaltigkeitsbewertung für Landwirtschaft und Lebensmittel zu Grunde liegen. In vielen Ländern bestehen jedoch erhebliche Defizite in der Umsetzung der Kernarbeitsnormen, wobei Kinderarbeit, Zwangsarbeit und gefährliche Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft weit verbreitet sind (siehe Kapitel 4.3.4). Verbraucher*innen können diese Defizite kaum erkennen. Der WBAE vertritt die Ansicht, dass die Umsetzung von sozialen Mindeststandards sowohl bei in Deutschland produzierten als auch bei importierten Lebensmitteln eine Aufgabe des Staates, von supranationalen Organisationen und der Unternehmen ist. Von Verbraucher*innen kann und sollte nicht erwartet werden, soziale Mindeststandards mit ihrem Kaufverhalten durchzusetzen.

Der WBAE empfiehlt:

  • Mindestlohngesetz entlang der Wertschöpfungskette für in Deutschland erzeugte Nahrungsmittel durch eine angemessene Kontrolldichte konsequent umsetzen (Adressat: Bund). Auch zur Sicherstellung der Wettbewerbsgleichheit in Deutschland sieht der WBAE Handlungsbedarf im Hinblick auf eine bessere Überwachung der Einhaltung der Maßnahmen, die mit dem Mindestlohngesetz eingeführt wurden (vor allem auch im Bereich der Saison- und Leiharbeitskräfte sowie in der Schlachtindustrie und der Gastronomie).
  • Stärkeres EU-weites Engagement zur Absicherung sozialer Mindeststandards (Adressat: Bund, EU). Auch zur Sicherstellung der Wettbewerbsgleichheit in Europa empfiehlt der WBAE der Bundesregierung, auf EU-Ebene zum Beispiel im Rahmen der Ratspräsidentschaft Anstrengungen gegen missbräuchliche Arbeitsverhältnisse im Bereich der Beschäftigung von Migrant*innen, von Saisonarbeitskräften und bei Leiharbeitskräften zu unternehmen.
  • Freiwillige Selbstverpflichtung beobachten und gegebenenfalls ordnungsrechtlich reagieren (Adressat: Bund, Wirtschaft). Der WBAE begrüßt den «Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte» und empfiehlt, die Vereinbarung im Koalitionsvertrag der Bundesregierung, die gesetzliche Regelungen für den Fall vorsieht, dass sich die freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen als nicht ausreichend herausstellt, zügig umzusetzen. Unternehmen sollten in angemessenem Umfang Menschenrechts- und Umweltschutzrisiken in Ländern mit erhöhtem Risiko analysieren. Diese Sorgfaltspflicht sollte auch Lieferanten und Dienstleister in der Wertschöpfungskette umfassen. Unternehmen sollten zur Überprüfung der Einhaltung sozialer Mindeststandards in Ländern, in denen dies erfahrungsgemäß nicht sichergestellt ist, überprüfbare Managementsysteme einrichten (Benennung einer/eines Beauftragten, Verträge, Kontrollen, Beschwerderespektive Hinweisgebersysteme, öffentliche Berichterstattung). Insbesondere sollten Unternehmen anerkannte Zertifizierungssysteme heranziehen. Der Bund sollte prüfen, welche Zertifizierungssysteme eine verlässliche Einhaltung garantieren und eine Liste zugelassener Systeme vorlegen. Unternehmen ab einer bestimmten Unternehmensgröße sollten über die Einhaltung der obigen Verpflichtung berichten müssen. Verstöße gegen diese Anforderungen sollten als Ordnungswidrigkeiten mit Geldbußen, bewusste Verstöße gegen die Pflicht zur wahrheitsgemäßen Berichterstattung auch als Straftaten sanktioniert werden können.
  • Das WTO-Regelwerk weiterentwickeln (Adressat: Bund, WTO, EU). Der WBAE bekräftigt seine Empfehlung aus seinem Gutachten zur Gemeinwohlorientierung der Agrarpolitik an die Bundesregierung (WBAE 2018), sich auf europäischer und internationaler Ebene für eine Weiterentwicklung des WTO-Regelwerkes hinsichtlich ethischer Belange (moral concerns) einzusetzen, sodass Kennzeichnungsverpflichtungen und Importbeschränkungen unter klar und eng definierten Regeln erlaubt werden können. Auf diese Weise ließen sich Deklarationspflichten für die Einhaltung von Arbeitsmindeststandards WTO-konform etablieren

Hinsichtlich der Gerechtigkeitsperspektive begrüßt der WBAE die Entwicklung von Fairness- Labeln, die es Verbraucher*innen ermöglichen, entsprechend ihrer Präferenzen soziale Ziele zu verfolgen, die über die Absicherung eines Mindeststandards hinausgehen. Der WBAE sieht jedoch Handlungsbedarf im Hinblick auf die Weiterentwicklung der bisher entwickelten Label. Es gibt Hinweise, dass bestehende Soziallabel, wie Fairtrade, zwar die Situation von abhängig Beschäftigten in Plantagen sowie von Kleinbäuer*innen verbessern, nicht jedoch die Situation von Landarbeiter*innen in bäuerlichen Betrieben. Zudem sind die Preisaufschläge für die Verbraucher*innen im Vergleich zu den erzielten Effekten relativ hoch. Vor diesem Hintergrund empfiehlt der WBAE:

  • Weiterentwicklung von internationalen Fairness-Labeln beim Schutz abhängig Beschäftigter fördern (Adressat: Bund, Wirtschaft, NGOs). Bei den Fairness-Labeln, die für den internationalen Handel entwickelt wurden, zum Beispiel Fairtrade, befürwortet der WBAE eine Weiterentwicklung der Label zur stärkeren Berücksichtigung der Arbeitsbedingungen der Landarbeiter*innen, die in bäuerlichen Betrieben arbeiten. Der WBAE empfiehlt ein stärkeres Engagement des Bundes auf der Ebene internationaler Organisationen zur Fortentwicklung von Fairtrade-Labeln, auch durch die Förderung entsprechender Stakeholderinitiativen und Wirkungsstudien.
  • Rechtlichen Rahmen für freiwillige Fairness-Label in Deutschland prüfen (Adressat: Bund). Bei den Fairness-Labeln, die für die Nahrungsmittelproduktion in Deutschland entwickelt werden, soll sichergestellt werden, dass die damit erreichten Auswirkungen auf das Einkommen der Landwirt*innen für Verbraucher*innen gut nachvollziehbar dokumentiert werden. Der WBAE empfiehlt dem BMEL daher, die Schaffung eines rechtlichen Rahmens für freiwillige Angaben zu prüfen, zum Beispiel als vorbehaltene Angabe oder als freiwilliges Label auf Basis staatlicher Mindestanforderungen ähnlich wie beim Regionalfenster. Dies könnte zum Beispiel eine Verpflichtung zur Berichterstattung über den Erzeugerpreis der gelabelten Ware im Vergleich zum durchschnittlichen Erzeugerpreis umfassen.
  • Forschung zur Operationalisierung und zum Management der sozialen Dimension nachhaltigerer Ernährung vorantreiben (Adressat: Bund). Angesichts der deutlich gewordenen konzeptionellen Defizite bei der Definition, Messung und Umsetzung der sozialen Dimension nachhaltigerer Ernährung, gerade auch in internationalen Wertschöpfungsketten, sollte der Bund diesbezügliche Forschung, auch hinsichtlich der Weiterentwicklung von Kennzeichnungsformen, stärker fördern.

9.6.4 Ein Klimalabel voranbringen

Umfassende Umweltlabel, die die landwirtschaftliche Produktion einbeziehen, sind aus mehreren Gründen besonders komplex (aufwändige Datengewinnung aufgrund der Kleinteiligkeit der landwirtschaftlichen Strukturen, Besonderheiten der landwirtschaftlichen Produktion, Bewertung der verschiedenen Umweltindikatoren und ihre Integration zu einer Gesamtbewertung, lokaler respektive regionaler Charakter vieler Umweltprobleme, räumlich unterschiedliche Knappheiten). Für ein Klimalabel bestehen diese Herausforderungen nicht respektive nicht im selben Umfang. Treibhausgase sind wegen der Eindimensionalität der Zielgröße (CO2-Äquivalente) prinzipiell leichter messbar, additiv und bewertbar, zudem liegen Datenbanken für viele Standardprozesse (Produkte) vor. WBAE und WBW (2016) haben in ihrem Klimaschutzgutachten dem BMEL empfohlen, die Möglichkeiten für ein Klimalabel in Forschungs- und Demonstrationsprojekten zu prüfen. Bisher ist diese Empfehlung nicht aufgegriffen worden. Die Umsetzung eines Klimalabels scheitert derzeit aufgrund einiger noch fehlender Voraussetzungen (zum Beispiel allgemein anerkannten Datenbanken, Festlegung von Bewertungsregeln), besonders jedoch aufgrund des geringen Interesses der Wirtschaft. In den letzten Jahren sind keine Initiativen von Seiten des BMEL erkennbar geworden, ein Klimalabel zu erproben. Ein solches Klimalabel könnte aber als wichtige Ergänzung zu einer möglichst weitreichenden Bepreisung von THG-Emissionen (die zum Beispiel den Verkehr und auch den Frachtflugverkehr erfassen sollte) dienen, besonders da die Landwirtschaft selber von der vorgesehenen THG-Bepreisung nicht erfasst ist.

Vor diesem Hintergrund empfiehlt der WBAE:

  • Klimalabel auf Basis von Standardwerten und ergänzenden firmenspezifischen Werten einführen (Adressat: Bund, Wirtschaft). Solange keine spezifischen Treibhausgasemissionen für bestimmte Erzeugnisse respektive Marken vorliegen, sollten die verschiedenen Lebensmittel mit Durchschnittswerten aus den vorliegenden Datenbanken gekennzeichnet werden. Die Konsumentinnen und Konsumenten erhielten dadurch am Verkaufsort einen Überblick über die Klimarelevanz ihrer Lebensmittelauswahl und können ihre Konsummuster klimafreundlicher ausrichten. Unternehmen, die klimafreundlicher produzieren, können auf Basis eigener – von unabhängigen Stellen geprüften – LCAs ihre Marken kennzeichnen und sich damit im Wettbewerb abheben.
  • Klimalabel konzeptionell und grafisch an Nutri-Score und Energieklassifizierung anlehnen (Adressat: Bund). Der Bund sollte das Klimalabel als mehrstufiges, farblich kodiertes Label konzipieren.
  • Verpflichtende Angabe des Klimalabels in der Lebensmittelwerbung prüfen (Adressat: Bund, Wirtschaft). Perspektivisch wäre eine Verpflichtung der Lebensmittelhersteller zur Angabe des Klimalabels im Rahmen der Lebensmittelwerbung zu prüfen, um Informationen zum Klimaschutz für die Verbraucher und Verbraucherinnen leichter verfügbar zu machen und am Markt eine höhere Bedeutung zu sichern.
  • Sich auf EU-Ebene für eine EU-weite verpflichtende Einführung eines Klimalabels einsetzen (Adressat: Bund). Ein Klimalabel wird auch aus EU-rechtlichen Gründen zunächst nur auf freiwilliger Basis umsetzbar sein. Da entsprechende Versuche einer freiwilligen Einführung in anderen EU-Mitgliedstaaten bisher aufgrund der hohen Kosten und des begrenzten Marketingnutzens gescheitert sind, sind erhebliche Fördermaßnahmen notwendig. Die Bundesregierung sollte mit ebenfalls interessierten Mitgliedstaaten, zum Beispiel in Skandinavien, Bündnisse für eine EU-weite verpflichtende Einführung suchen. Gegebenenfalls sollte eine verpflichtende Einführung nur für nationale Anbieter geprüft werden.
  • Erstellung einer Datenbank und Methodenkonventionen vorantreiben (Adressat: Bund). Der WBAE erneuert seine Empfehlung zum Capacity Building (WBAE und WBW 2016), zum Beispiel zur Beauftragung einer (staatlichen) Institution mit der Entwicklung und gegebenenfalls auch späteren Durchführung des Klimalabellings (s. Carbon Trust in England). Dies würde die Erstellung einer Datenbank zu durchschnittlichen Klimagasemissionen verschiedener Lebensmittel umfassen. Hierzu liegen inzwischen in der Forschung zahlreiche Überblicksarbeiten vor, die Mittelwerte, aber auch Standardabweichungen für die unterschiedlichen Produktgruppen ausweisen. Nicht immer sind derzeit verlässliche Daten für deutsche Produktionsverhältnisse verfügbar.
  • Verfahren zur Messung von Treibhausgasemissionen in der Landwirtschaft vorantreiben (Adressat: Bund, Wirtschaft). Der Bund sollte die Entwicklung von Verfahren zur beispielhaften Messung und Abschätzung spezifischer Treibhausgasemissionen in der Landwirtschaft vorantreiben, um den Einfluss von Verfahrenstechnologien (zum Beispiel in der Düngerausbringung) und Managemententscheidungen (zum Beispiel Zeitpunkt der Düngung, Wettereinflüsse) kostengünstig abschätzen zu können. Auf dieser Basis können dann Unternehmen entscheiden, wann sie von Durchschnittswerten auf spezifische Treibhausgaswerte umsteigen wollen, um ihre Klimaschutzerfolge im Label aufzeigen zu können und dadurch Wettbewerbsvorteile zu erringen.

9.6.5 Ein breitenwirksames Tierschutzlabel einführen

Der Beirat hat 2011 in seiner Stellungnahme zur Einführung eines Tierschutzlabels und 2015 in seinem Nutztiergutachten die Notwendigkeit eines staatlichen Tierwohllabels betont. Das BMEL hat den Vorschlag des Beirats 2017 aufgegriffen und die Entwicklung eines staatlichen Tierwohlkennzeichens für Schweinefleisch angestoßen. Dieses ist als freiwilliges, dreistufiges Positivlabel geplant. Besonders hervorzuheben ist aus Sicht des WBAE, dass das BMEL in seinen Planungen ein substanzielles Budget (zirka 70 Millionen Euro) für die Bekanntmachung dieses Zeichens budgetiert hat. Die Umgebung für ein staatliches Label hat sich insofern geändert, als seit April 2019 eine einheitliche privatwirtschaftliche Kennzeichnung der Haltungssysteme in großen Teilen des deutschen LEH eingeführt wurde.

Der WBAE empfiehlt:

  • Mehrstufiges, staatliches Tierschutzlabel mit im Zeitablauf steigenden Anforderungen entwickeln (Adressat: Bund). Der WBAE empfiehlt weiterhin ein mehrstufiges, staatliches Label. Bisher wurden vom BMEL nur Kriterien für Schweinefleisch entwickelt. Die Entwicklung von Kriterien für Geflügel- und Rindfleisch, Milch sowie Eier sollte vom BMEL zügig vorangetrieben werden. Die Einstiegsstufe sollte zunächst auf eine Kompatibilität zu bestehenden Ansätzen wie der Haltungssystemkennzeichnung des Handels ausgerichtet sein und eine schnelle Überführung der Betriebe aus der Initiative Tierwohl gewährleisten. Das Anforderungsniveau ist dann in einem klaren zeitlichen Rahmen zu erhöhen, um die Umsetzung zentraler Tierschutzkriterien und besonders des EU-Rechts zum Verzicht auf Amputationen (wie das Kupieren beim Schwein) zu gewährleisten. Eine Unterschreitung geltenden EU-Rechts durch flächendeckende Nutzung einer Ausnahmeregelung in Betrieben, deren Produkte mit einem Tierschutzlabel ausgezeichnet werden, ist kurzfristig nur schwer und längerfristig gar nicht kommunizierbar.
  • Tierschutzlabel in nationale Nutztierstrategie einbinden (Adressat: Bund, Länder). Das staatliche Tierschutzlabel sollte mit einer klaren Zielsetzung für die Tierhaltung in den verschiedenen Stufen verbunden und in eine nationale Nutztierstrategie eingebettet werden. Da die am Markt erzielbaren Mehrerlöse die zusätzlichen Erzeugungskosten nicht decken, sollten Landwirtinnen und Landwirte für das höhere Tierwohlniveau staatlich gefördert werden (siehe Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung 2020). Der Bund sollte die Entwicklung zukunftsfähiger Stallsysteme und deren Umsetzung stärker als bisher fördern, damit die Verbreitung des Labels nicht vornehmlich auf die Einstiegsstufe begrenzt bleibt, sondern langfristig zukunftsfähige Haltungsformen Verbreitung finden. Hierzu sind auch Anpassungen in den rechtlichen Regelungen zur Stallgenehmigung notwendig. Der Bund sollte Informations- und Förderprogramme entwickeln, um möglichst schnell Fleischverarbeitung, Metzgereien sowie Gastronomie und Gemeinschaftsverpflegung einzubinden. Erhebliche Teile der Steuermehreinnahmen aus der in Kapitel 9.4.1 vorgeschlagenen Abschaffung der Reduzierung der Mehrwertsteuer auf tierische Erzeugnisse sollten deshalb von Bund und Ländern für die nationale Nutztierstrategie insgesamt und die Kompensation von Tierschutzmehrkosten im Speziellen verwendet werden.
  • Für die Kategorisierung zunehmend zusätzlich Ergebnisindikatoren nutzen (Adressat: Bund, Wirtschaft). Das BMEL sollte dafür Sorge tragen, dass für die Einordnung in die verschiedenen Labelstufen zusätzlich auch Ergebnisindikatoren wie etwa Tiergesundheitsindikatoren herangezogen werden, die bspw. am Schlachthof erhoben werden können. Dies erfordert verstärkte Anstrengungen zur standardisierten Erhebung valider Daten.
  • Auf verpflichtende Kennzeichnung auf EU-Ebene hinwirken (Adressat: Bund, EU). Die Bundesregierung sollte sich (wie bei den anderen Labeln auch) auf EU-Ebene für eine EU-weite Regelung und ein verpflichtendes Tierwohllabelling einsetzen. Das BMEL sollte prüfen, als Zwischenlösung die inländische Ernährungswirtschaft zur Anwendung des Tierschutzlabels bei der Vermarktung im Inland zu verpflichten, falls das Haltungskennzeichnungssystem des Handels nicht hinreichend greift.
  • Tierschutzlabel grafisch an den Nutri-Score anlehnen (Adressat: Bund). Um eine Wiedererkennbarkeit der verschiedenen Nachhaltigkeitslabel zu gewährleisten, sollte das BMEL veranlassen, dass das Tierschutzlabel sich grafisch eng an den Nutri-Score anlehnt.
  • Nutzung von Tierschutzbegriffen rechtlich regeln (Adressat: Bund). Der Bund sollte die Nutzung von Tierschutzbegriffen im Marketing («artgerecht»etc.) rechtlich regeln und – sobald das staatliche Tierschutzlabel vorliegt – auf Produkte eingrenzen, die Mindestanforderungen im Hinblick auf das Tierwohl erfüllen. Die Bundesregierung sollte sich für entsprechende Regelungen auch auf EU-Ebene einsetzen.

9.6.6 Werbeumgebung nachhaltiger gestalten

In Deutschland wird überproportional viel Werbung für Produkte mit einer tendenziell ungünstigen Nährstoffzusammensetzung (zum Beispiel Süßwaren, Softdrinks) geschaltet, auch im Hinblick auf die Zielgruppe Kinder. Kinder nehmen z. T. mehr als 100-mal pro Woche Lebensmittelwerbung über Social-Media-Anwendungen wahr. Metaanalysen verweisen auf den Zusammenhang zwischen Medienkonsum und erhöhter Kalorienzufuhr. International werden zunehmend Werbeeinschränkungen vollzogen. Mit der vom BMEL geplanten Einführung des Nutri-Scores gibt es zukünftig ein politisch wie wissenschaftlich anerkanntes Instrument, auf dessen Basis auch Maßnahmen zur Verbesserung der Werbeumgebung erfolgen können.

Der WBAE empfiehlt mit Blick auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen (siehe Kapitel 8.5) und aufgrund der langfristigen positiven Wirkung der Maßnahmen (Lern- und Gewöhnungseffekte, siehe Kapitel 3) folgende Regelungen des Marketings:

  • An Kinder gerichtete Werbung für wenig gesundheitsfördernde Lebensmittel einschränken (Adressat: Bund). Der WBAE empfiehlt dem Bund, an Kinder unter 13 Jahren gerichtete Werbemaßnahmen inklusive neuerer Marketingelemente wie Eventmarketing, Sponsoring, Product-Placement und Internetmarketing, für wenig gesundheitsfördernde Lebensmittel zu verbieten. An Kinder gerichtete Werbung sollte auf Lebensmittel mit einem günstigen Nährwertprofil (Stufen A und B des Nutri-Scores) begrenzt werden.
  • Werbung für Lebensmittel in Kitas und Schulen verbieten (Adressat: Länder, Kommunen). Länder und Kommunen sollten dafür sorgen, dass Kitas und Schulen werbefreie Räume sind.
  • Zur Angabe des Nutri-Scores in der Lebensmittelwerbung verpflichten (Adressat: Bund). Der WBAE empfiehlt der Bundesregierung die Einführung einer wettbewerbsrechtlichen Sonderregelung, die die verpflichtende Angabe des Nutri-Scores in der Lebensmittelwerbung vorsieht (Ausnahme: Produkte, für die kein Nutri-Score möglich ist, zum Beispiel Frischobst). Dies trägt auch zum Kinderund Jugendschutz bei, denn ein nicht unerheblicher Teil der Werbeexposition von Kindern und Jugendlichen erfolgt über nicht kinderspezifische Sendungen. Die oben genannten Beschränkungen der explizit an Kinder gerichteten Werbung führt tendenziell zu Ausweichreaktionen in solche Programme. Die verpflichtende Nutri-Score-Angabe in der Werbung (inklusive Social Media) würde zudem beschleunigen, dass Lebensmittelhersteller den Nutri-Score auf dem Produkt angeben, auch wenn dies noch freiwillig sein sollte.
  • Werbemaßnahmen in sozialen Medien immer als solche kenntlich machen (Adressat: Bund). Der WBAE empfiehlt der Bundesregierung, für eine verpflichtende und für die Zielgruppen klar erkennbare Kenntlichmachung von neuen digitalen Werbemaßnahmen wie Social Influencing im Internet zu sorgen.

9.6.7 Ein «digitales Ecosystem nachhaltigere Ernährung» schaffen

Das Internet, soziale Medien und Apps bieten gegenüber klassischen Informationswegen die Möglichkeit, dann Informationen für die Verbraucher*innen bereitzustellen, wenn sie diese konkret benötigen (siehe Kapitel 8.10), sei es bei der Auswahl (zum Beispiel vor dem Verkaufsregal), der Zubereitung oder in der Essenssituation (zum Beispiel zur Bewertung der Speisen, Energiedichte, Portionsgröße etc.). Durch die große Nähe zum Verhalten können Apps deutlich effektiver sein als allgemeine Informationskampagnen. Ein weiterer Vorteil besteht in der Aktualität und Schnelligkeit. Informationen können nahezu in Echtzeit aktualisiert werden, und es können ganz unterschiedliche Informationsquellen eingebunden werden. Allerdings können Verbraucher*innen in der Regel weder die Qualität der zugrundeliegenden Datenbanken und Algorithmen noch die Validität zugrundeliegender (Verhaltens-)Normen (zum Beispiel für das Ernährungsverhalten) und daraus abgeleiteter Empfehlungen nachvollziehen (siehe Kapitel 8.10.4). Zudem werden die technischen Möglichkeiten bisher im Lebensmittelmarkt nur begrenzt und vor allen Dingen fragmentarisch genutzt («App-Dschungel»).

Darüber hinaus gibt es zunehmend weitere mobile Sensoren, Apps und digitale Technologien, die in unterschiedlicher Weise und in verschiedenen Lebensbereichen den Konsum und das Verhalten von Verbraucher*innen beeinflussen. Diese verschiedenen Technologien und digitalen Angebote werden zunehmend integriert und miteinander verflochten. So entwickeln sich neue smarte «digitale Ecosystems» nicht nur in und um private Haushalte(n), sondern auch im Außer-Haus-Bereich (siehe Kapitel 8.10.3). Diese smarten «digitalen Ecosystems» sind hinsichtlich Umsetzung und Technologie teils sehr unterschiedlich, zielen jedoch häufig darauf ab, die Convenience und Verfügbarkeit und damit letztlich auch den Konsum von Lebensmitteln zu erhöhen (siehe Kapitel 8.10.4). Durch die Entwicklung von solchen «digitalen Ecosystems», die die Verfügbarkeit und Convenience bestimmter Produkte erhöhen, besteht zudem die Gefahr einer Verringerung von Wahlmöglichkeiten.

Vor diesem Hintergrund empfiehlt der WBAE dem BMEL folgende Maßnahmen:

  • «Digitales Ecosystem nachhaltigere Ernährung» entwickeln (Adressat: Bund). Die momentan angebotenen Apps und digitalen Anwendungen sind häufig sehr spezifisch für bestimmte Teilaspekte des täglichen Konsum- und Ernährungsverhaltens konzipiert. Das BMEL sollte die Entwicklung und die kontinuierliche Weiterentwicklung eines «digitalen Ecosystems nachhaltigere Ernährung» veranlassen, das Anwendungen und Daten für den gesamten Verhaltensprozess zur Verfügung stellt und verständlich integriert, sodass die Anwendungen für die Verbraucher*innen («convenient»), schneller («just-in-time») und personalisiert («tailored») im Alltag verfügbar sind. Dies sollte es Verbraucher (m/w/d)n ermöglichen, ihre Rolle als verantwortliche Akteure in der Marktwirtschaft stärker wahrzunehmen. Dazu sollten bestehende und neue Dienste sowie Anwendungen im Umfeld der Ernährung integriert werden.
  • Valide, integrierte Open-access-Datenbasis («Bundesnachhaltigkeitsschlüssel») schaffen (Adressat: Bund). Als Grundlage für die Entwicklung von Labeln, informationsbasierten digitalen Anwendungen (zum Beispiel Apps) wie auch eines «digitalen Ecosystems nachhaltigere Ernährung» (siehe Kapitel 8.10.3) und damit die Verbraucher*innen leichter, schneller und besser nachvollziehen können, anhand welcher Kriterien und auf welcher Datengrundlage die digitalen Anwendungen etwas empfehlen respektive bewerten, ist es essentiell, dass mehr validierte und hochwertige, allgemein zugängliche Datenbanken zur Verfügung gestellt werden. Der WBAE empfiehlt dem BMEL deshalb, den Bundeslebensmittelschlüssel als grundlegende und kostenfreie Datenbank weiter zu einem «Bundesnachhaltigkeitsschlüssel» auszubauen und zusätzlich Daten zur Klimabelastung und auch weitere Nachhaltigkeitsdaten aufzunehmen sowie die entsprechende Infrastruktur bereitzustellen. Auf Basis einer solchen staatlich finanzierten Dateninfrastruktur könnten dann Unternehmen und andere Einrichtungen entsprechende Anwendungen entwickeln.
  • Verfügbarkeit der Daten sichern und freiwillige Datenspenden ermöglichen (Adressat: Bund). Die erfassten Daten, die Verbraucher*innen im Rahmen von digitalen Anwendungen generieren, sind für diese und andere Stakeholder meist nicht zugänglich. Dies geht mit der Gefahr einer Monopolisierung der Daten durch Unternehmen einher (siehe Kapitel 8.10.4). Der WBAE empfiehlt der Bundesregierung, die Verfügbarkeit über die eigenen, persönlichen Daten rechtlich stärker zu sichern. Ferner sollten die Möglichkeiten der freiwilligen Datenspende (siehe Kapitel 8.10.4) von Verbraucher*innen an Forschungseinrichtungen geprüft werden, damit auch mehr nichtkommerzielle Anwendungen entstehen können. Um diese Strategie auszugestalten, könnte der Bund Pilotprojekte initiieren, in denen die Rahmenbedingungen für die Datenverarbeitung und Anreizmodelle für freiwillige Datenspenden evaluiert werden.
  • Private smarte «digitale Ecosystems» einer Qualitätskontrolle unterwerfen (Adressat Bund, Länder). Um eine problematische Manipulation von Verbraucher*innen bei digitalen Anwendungen (Apps etc.) vorzubeugen, sollten Bewertungs-, Prüf- und Aufklärungsprogramme etwa analog zum Digitalen Marktwächterprogramm der Verbraucherzentralen (marktwaechter.de) etabliert werden.

9.7 Nachhaltigere Ernährung als das «New Normal» – «Soziale Normen kalibrieren»

Die Ernährungsumgebung mit den verfügbaren Angeboten und Portionsgrößen «kalibriert» unser Wahrnehmungsfeld und was wir als «normal» und «angemessen» empfinden (soziale Norm). So verändern die über die Jahre angestiegenen Portionsgrößen die Wahrnehmung dessen, was als angemessene respektive zu kleine oder zu große Portion gilt (siehe Kapitel 3.4.1). Sind viele verarbeitete Produkte relativ süß respektive relativ salzig, so passt sich unsere Süße- respektive Salzpräferenz daran an, und wir empfinden weniger süße respektive salzige Produkte als fad. Auch welche Lebensmittel als genießbar gelten (zum Beispiel Mahlzeiten des Vortages) sowie ob und in welchem Ausmaß es akzeptabel ist, genießbare Lebensmittel zu entsorgen, hängt von sozialen Normen ab. Für die aktive Gestal- tung nachhaltigerer Ernährungsumgebungen ist es erforderlich, über den gesamten Verhaltens- prozess soziale Normen zu etablieren, die dazu beitragen, dass es für uns normal wird, sich nach- haltiger zu ernähren. Der WBAE empfiehlt:

  • kleinere Portionsgrößen zum Standard zu machen (Kapitel 9.7.1),
  • den Konsum zuckerhaltiger Getränke zu verringern und den Leitungswasserkonsum ambitioniert fördern (Kapitel 9.7.2),
  • die Potenziale der Reformulierung realistisch einzuschätzen und zu nutzen (Kapitel 9.7.3) sowie
  • Lebensmittelabfälle effizient zu reduzieren (Kapitel 9.7.4).

9.7.1 Kleinere Portionsgrößen zum Standard machen

Insgesamt ist der Beirat der Auffassung, dass das Thema Portionsgrößeneffekte bisher in Deutschland vernachlässigt wird, vielleicht weil es sich um einen in der Regel nicht wahrnehmbaren Einfluss handelt (siehe Kapitel 3 und 8.3). Allerdings sind rechtliche Regulierungen zur Verringerung von problematischen Portionsgrößeneffekten insgesamt schwierig und würden vielfach Neuland betreten (siehe Kapitel 8.3.3).

Der WBAE empfiehlt:

  • Qualitätsstandards der DGE für die öffentliche Gemeinschaftsverpflegung verpflichtend umsetzen (Adressat: Länder, Kommunen). Eine Umsetzung der aus gesundheits- und umweltpolitischer Sicht empfohlenen DGE-Standards würde zu einer Verringerung der Portionsgrößen und des Konsums beitragen und langfristig mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu einer Veränderung der sozialen Norm führen («weniger und besser»). Die Länder, Kommunen und der Bund sollten diese Maßnahme in ihren öffentlichen Gemeinschaftsverpflegungen umsetzen.
  • Kleine Portionsgrößen in der Außer-Haus-Verpflegung verfügbar machen (Adressat: Bund, Länder, Kommunen, Wirtschaft). Der WBAE empfiehlt der Bundesregierung, als national umsetzbare Maßnahme eine rechtliche Regelung zur besseren Platzierung von kleineren Portionsgrößen und zur Gestaltung von Speisekarten zu entwickeln und umzusetzen, so zum Beispiel die Verpflichtung, mindestens zwei Hauptgerichte in kleinerer Portionsgröße und zu vergleichsweise günstigen Preisen anzubieten.
  • Portionsgrößenthematik stärker in die BMEL-Kampagne «Zu gut für die Tonne» einbeziehen (Adressat: Bund). Auch wenn Informationskampagnen kaum direkte Wirkungen auf das Verhalten der Konsument*innen haben, könnten sie dazu beitragen, das Verständnis für die Problematik und damit die Akzeptanz von Regulierungen zu erhöhen (siehe Kapitel 8.7). Der WBAE empfiehlt dem BMEL, das Thema Portionsgrößen stärker als bisher in der Kampagne «Zu gut für die Tonne» zu behandeln und dabei auch stärker auf potenzielle Zielkonflikte und Probleme auf der Angebotsseite einzugehen (zum Beispiel Umwelt- und Gesundheitsprobleme von «all you can eat-Buffets»).
  • Innovative Maßnahmen zur Verringerung respektive Vermeidung des Portionsgrößeneffektes erproben (Adressat: Bund, Länder). Um effektive Strategien auszugestalten, sollten Bund und Länder Pilotprojekte durchführen, in denen die Rahmenbedingungen und Maßnahmen für eine Verringerung oder Vermeidung des Portionsgrößeneffektes mittels eines wissenschaftlichen Implementierungsund Evaluierungsprogramms («WIE»-Programm, siehe Kapitel 8.2.4) getestet werden.
  • Freiwillige Maßnahmen der Wirtschaft initiieren (Adressat: Bund, Wirtschaft). Aufbauend auf den Ergebnissen der oben genannten Pilotprojekte sollte der Bund zusätzlich freiwillige Maßnahmen der Wirtschaft initiierten.

9.7.2 Konsum zuckerhaltiger Getränke verringern und Leitungswasserkonsum ambitioniert fördern: «Die Getränkefalle vermeiden»

Deutschland ist EU-weit eines der Länder mit dem höchsten Pro-Kopf-Verbrauch an zuckerhaltigen Getränken (Softdrinks und Fruchtsaft/-getränke). Der Konsum von Softdrinks konzentriert sich besonders stark auf jüngere Altersgruppen. Bei der Altersgruppe der 12- bis 17-jährigen Jugendlichen in Deutschland haben sie einen Anteil von 25 bis 30 Prozent an der täglichen Energiezufuhr. Die Reduzierung des Konsums zuckerhaltiger Getränke ist insofern eine wichtige Strategie zur Prävention und Kontrolle von Adipositas und ernährungsmitbedingten Krankheiten. Dies trifft besonders auf Kinder und Jugendliche zu. Menschen weisen ein geringeres Sättigungsgefühl für «Getränkekalorien» als für «Essenskalorien» auf. Eine Reduktion von zuckergesüßten Getränken (Softdrinks) ist eine No-regret-Maßnahme. Erfolgt die Substitution durch Leitungswasser, dann sind damit aufgrund des wegfallenden Transports und der nicht benötigten Verpackungen auch klar positive Umwelteffekte verbunden.

Der WBAE empfiehlt:

  • Nationales Aktionsprogramm «Reduktion Süßgetränke» auflegen (Adressat: Bund). In der Forschung ist gut belegt, dass es einer Kombination verschiedener Instrumente zur Veränderung des Getränkeverhaltens bedarf. Der Bund sollte die Umsetzung der folgenden Maßnahmen durch ein Nationales Aktionsprogramm «Reduktion Süßgetränke» koordinieren.
  • Einführung einer Steuer auf zuckerhaltige Getränke gemäß ihres Zuckergehaltes (Adressat: Bund). Der WBAE empfiehlt dem Bund die Einführung einer Steuer auf Basis des Gehalts an freiem Zucker, da eine zielgerichtete Besteuerung des Reduktionsziels die Wirkung verbessert und verteilungspolitisch unerwünschte Nebeneffekte im Vergleich zu einer preisbezogenen Verbrauchssteuer oder einer Mehrwertsteuererhöhung verringert (siehe Kapitel 9.4.2). Diese Steuer sollte durch verschiedene Begleitinstrumente in ihrer Wirkung verstärkt und ungünstiges Substitutionsverhalten verringert werden. Der Konsum von Leitungswasser sollte als naheliegende erste Wahl bei Verbraucher (m/w/d)n verankert werden, was entsprechende Ernährungsumgebungen voraussetzt.
  • Kostenloses Leitungswasser im öffentlichen Raum bereitstellen (Adressat: Bund, Länder, Kommunen). Der WBAE empfiehlt – wie in der aktuell im Gesetzgebungsprozess befindlichen Novelle der EU-Trinkwasserrichtlinie vorgesehen – eine breite Infrastruktur von einfachen, öffentlich sichtbaren und gut zugänglichen (außerhalb von Toiletten gelegenen) Wasserhähnen in öffentlichen Gebäuden (Schulen, Universitäten, Krankenhäusern, Senioreneinrichtungen, Verwaltungen) mit klarer Kennzeichnung bis zu leitungsgebundenen Trinkwasserspendern («Trinkbrunnen») im Außenbereich zur kostenlosen Nutzung aufzubauen.
  • Verpflichtende Kennzeichnung von Getränken mit dem geplanten Nutri-Score (Adressat: Bund). Die vom BMEL geplante und vom WBAE befürwortete Einführung des Nutri-Scores (siehe Kapitel 9.6.2) würde in ihrer Wirkung deutlich verbessert, wenn sie verpflichtend erfolgen würde, da ansonsten vornehmlich positiv bewertete Produkte gelabelt würden, was die Wirkung des Instrumentes schmälert (siehe Kapitel 9.6.2). Dies trifft auch auf die Gastronomie zu. Sollte der Nutri-Score nicht verpflichtend sein, könnte auch über einen Warnhinweis auf Getränken mit hohem Zuckergehalt (zum Beispiel > 5 g/100 ml) nachgedacht werden (zum Beispiel «hoher, nicht gesundheitsfördernder Zuckeranteil, bewusst konsumieren»).
  • Leitungswasserangebote in der Gastronomie und im Einzelhandel ambitioniert fördern (Adressat: Bund, Länder). Zurzeit schreiben die Gaststättengesetze der Bundesländer vor, dass mindestens ein alkoholfreies Getränk nicht teurer verkauft werden darf als das preiswerteste alkoholische Getränk. Noch wirksamer zur Förderung kalorienfreier Getränke wäre es, wenn die Länder das Gaststättengesetz so novellieren, dass zukünftig Mineralwasser (still und mit Kohlensäure) zu einem Preis angeboten werden muss, der höchstens 50 Prozent des Preises des zweitgünstigsten Getränks betragen darf. Eine solche Regelung könnte dann analog für alle Gastronomiebetriebe inklusive des Außer-Haus-Marktes (Gesundheits- und Senioreneinrichtungen, Verkehrsgastronomie, Event-Catering etc.) und alle Verkaufsstätten des Lebensmitteleinzelhandels sowie des Lebensmittelhandwerks in die betreffenden Rechtstexte eingeführt werden. In der Gastronomie könnte dieser Verpflichtung auch durch die aktive Zurverfügungstellung von kostenlosem Leitungswasser entsprochen werden. Die zurzeit in der Novellierung befindliche EU-Trinkwasserrichtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die Abgabe von Leitungswasser (kostenlos oder gegen eine geringe Servicegebühr) an Kund*innen in Restaurants, Kantinen und im Rahmen von Verpflegungsdienstleistungen fördern. Eine solche Förderung respektive Ermunterung (Art. 13 der EU-Trinkwasserrichtlinie) sollte in Deutschland ambitioniert umgesetzt werden, zum Beispiel durch eine Pflicht zur kostenlosen respektive preisgünstigen Abgabe.
  • Gesundheitsfördernde Getränke als Standardoption bei Kindermenüs (Adressat: Bund, Länder). Hochkalorische, zuckerhaltige Getränke gehören in vielen Bereichen der Außer-Haus- Verpflegung zur derzeitigen Standardoption bei Kindermenüs – ein klassisches Beispiel für eine wenig förderliche Ernährungsumgebung. Das BMEL sollte sich dafür einsetzen, dass Kindermenüs Wasser oder andere nicht kalorische Varianten als Standardoption (Default) enthalten. Da die Gastronomie in vielen Bereichen kleinteilig und wenig organisiert ist, wird dies auf dem Wege einer freiwilligen Selbstverpflichtung (Branchenvereinbarung) voraussichtlich nicht gelingen, sodass eine gesetzliche Regelung notwendig ist (siehe oben).
  • Angebot zuckerhaltiger Getränke in öffentlichen Institutionen verringern und den Konsum von Leitungswasser attraktiver machen (Adressat: Länder, Kommunen, Bund). In Schulen sollten zuckerhaltige Getränke möglichst nicht angeboten werden. Einige kommunale Schulträger oder Schulen haben sich darauf heute schon verpflichtet. Zumindest sollten Schulen wie auch Universitäten und öffentliche Verwaltungen nicht kalorische Getränke durch flächendeckend aufgestellte Trinkwasserbrunnen, Preisdifferenzierung und Veränderungen der Standardoptionen (soziale Norm, Nudging) in den Vordergrund rücken. Ähnlich wie in der Gastronomie könnte vorgeschrieben werden, dass der Preis von Mineralwasser auf 50 Prozent des günstigsten zuckerhaltigen Getränkes begrenzt wird. In Krankenhäusern und Senioreneinrichtungen, Bahnhöfen, Flughäfen und Autobahnraststätten sowie öffentlichen Unternehmen sollten vergleichbare Anforderungen gestellt werden. Zudem könnte der Bund Kampagnen zur freiwilligen Einführung solcher Maßnahmen in privaten Unternehmen durchführen.
  • Breit angelegte Informationskampagne zur Vermeidung der «Getränkefalle» (Adressat: Bund). In dieser Informationskampagne sollten die Risiken zuckerhaltiger Getränke kommuniziert und Verhaltensalternativen beworben werden. Dabei sollte auch der ökonomische wie ökologische Mehrwert von Leitungs- gegenüber Mineralwasser kommuniziert werden (Leitungswasser als erste Wahl).
  • Kleine Getränkegrößen in den Vordergrund rücken (Adressat: Bund, Länder). Verpflichtung zum Angebot auch kleiner Getränkegrößen bei zuckerhaltigen Getränken in der Gastronomie und im Außer-Haus-Markt.
  • An Kinder gerichtete Werbung für Produkte mit hohem Zuckeranteil verbieten (Adressat: Bund). Die bisherigen Selbstverpflichtungen im Bereich der Werbebeschränkungen für Getränke an Kinder sollten durch ein gesetzliches Werbeverbot für Getränke mit hohem Zuckeranteil in der kindergerichteten Werbung ersetzt werden.
  • Förderung des Konsums leichter Schorlen durch Reformulierung (Adressat: Bund). Die DGE empfiehlt leichte Saftschorlen (Verhältnis Wasser zu Saft 3:1) als gelegentliche Alternative zum Konsum von Wasser und anderen ungesüßten Getränken. Der Konsum leichter Saftschorlen sollte durch geeignete Reformulierungsmaßnahmen zu Lasten von Getränken mit höherem Zuckergehalt gefördert werden (siehe Kapitel 9.7.3).

9.7.3 Potenziale der Reformulierung realistisch einschätzen und nutzen

Das BMEL hat mit der Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie für Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten eine Reihe von Selbstverpflichtungen der Wirtschaft initiiert, die eine Veränderung von Rezepturen verarbeiteter Produkte mit dem Ziel anstreben, bei gleichbleibender Geschmacksqualität ernährungsphysiologisch problematische Inhaltsstoffe zu reduzieren. Der WBAE sieht die Reformulierung von Lebensmitteln durch die Hersteller als geeignete Maßnahme hin zu einer nachhaltigeren Ernährung. Da die absolute Wirkung auf ernährungsassoziierte Krankheiten und Übergewicht allerdings eher gering sein wird, kann eine Reformulierungsstrategie nur ein Baustein im Rahmen eines umfassenden Instrumentenmix sein (siehe Kapitel 9.10). Der WBAE empfiehlt dem BMEL eine Fortführung der Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie, die in wichtigen Aspekten weiterentwickelt werden sollte (Adressat: Bund, Wirtschaft):

  • Reformulierungsmaßnahmen priorisieren und zunächst auf Zuckergehalt und bestimmte Produktgruppen fokussieren (Adressat: Bund, Wirtschaft). Der Beirat unterstützt die Fokussierung der Reformulierungsmaßnahmen auf den Zuckergehalt und die Produktgruppen Erfrischungsgetränke, Frühstückscerealien und Milchprodukte, da dort eine Zuckerreduktion schnell, einfach und zu geringen Kosten umgesetzt werden kann (siehe Kapitel 8.4). Auch wenn eine ersatzlose Reduktion des Zuckergehaltes in diesen Produkten auf den ersten Blick nur zu einem geringen Rückgang der Gesamtzuckeraufnahme in der Bevölkerung führen wird, kann ein signifikanter Sekundäreffekt auf die Geschmackspräferenz erwartet werden. Eine darüber hinausgehende weitere Reduktion des Zuckergehalts in diesen drei Produktgruppen durch die Verwendung von Zuckeraustauschstoffen und Süßstoffen hält der WBAE ebenfalls für sinnvoll. Im Bereich der zuckerhaltigen Getränke sollte weiterhin durch Reformulierungsmaßnahmen die Bereitstellung von leichten Saftschorlen mit einem reduzierten Fruchtsaftgehalt gemäß der DGE-Empfehlungen (3 Teile Wasser, 1 Teil Saft) mit hoher Priorität verfolgt werden.
  • Maßnahmen der Reformulierungsstrategie systematisch wissenschaftlich unterlegen (Adressat: Bund). Empfehlungen für Reformulierungsmaßnahmen sollten zukünftig intensiver systematisch wissenschaftlich vorbereitet, die Durchführung begleitet und die Erfolge evaluiert werden. Die wissenschaftliche Begleitung sollte unter anderem im Vorfeld der Maßnahmen maximale Effektgrößen berechnen, ausdrückliche, an diesen Effektgrößen ausgerichtete Ziele formulieren und die Zielerreichung regelmäßig evaluieren. Messgrößen dürfen hier nicht nur der Zucker-/Salz-/Fettgehalt von Produkten und Produktgruppen sein. Um bereits im Vorfeld abschätzen zu können, ob eine bestimmte Reformulierungsmaßnahme den Aufwand lohnt respektive um den Erfolg einer Maßnahme beurteilen zu können, müssen auch die Effekte auf die bevölkerungsgruppenabhängige Gesamtaufnahme von Zucker, Salz und Fett prognostiziert und evaluiert werden sowie mögliche Auswirkungen auf Übergewicht und ernährungsassoziierte Erkrankungen. Reformulierte Produkte auf dem Markt sind nur dann erstrebenswert, wenn sie auch zu intendierten Effekten bei den Verbraucher (m/w/d)n führen.
  • Reformulierungsstrategie ausdehnen (Adressat: Bund, Wirtschaft). Sollte die wissenschaftliche Vorbereitung der Reformulierungsmaßnahmen weitere Produktgruppen identifizieren, bei denen eine Reduktion von Zucker, Salz und Fett signifikante Effekte erwarten lässt, sollte die Reformulierungsstrategie des BMEL auf diese Lebensmittel ausgeweitet werden. Zudem sollte auch die Außer-Haus-Verpflegung eingeschlossen werden. Hierbei sind vor allem die Gemeinschaftsverpflegung, die Systemgastronomie und große Gastronomiezulieferer von Bedeutung.
  • Weitere Nachhaltigkeitsaspekte wie etwa Klimaschutz in Reformulierungsmaßnahmen einbinden (Adressat: Bund, Wirtschaft). Die Reformulierungsmaßnahmen sollten auf andere Nachhaltigkeitsaspekte als die Gesundheit ausgeweitet werden, zum Beispiel auf Klimaschutz im Sinne einer vermehrten Verwendung von pflanzlichen anstelle von tierischen Erzeugnissen in zusammengesetzten Lebensmitteln oder Fertiggerichten (siehe Kapitel 8.4.4). Da es hier auch um Fragen des Verbraucherschutzes und von verständlichen Produktbezeichnungen geht, sollten hier zunächst freiwillige Maßnahmen im Vordergrund stehen.
  • Lebensmittelherstellern wissenschaftsbasierte Toolbox zur Verfügung stellen (Adressat: Bund, Wirtschaft). Bei Produkten, in denen Zucker, Salz oder Fett nicht nur sensorische Aufgaben erfüllen, bestehen häufig komplexe Zusammenhänge zwischen Zucker-, Salz- und Fettgehalt einerseits und gesundheitsfördernder und -abträglicher Wirkung, Qualität, Sensorik und Haltbarkeit der Lebensmittel andererseits. Deshalb und auch vor dem Hintergrund der mittelständischen und zum Teil noch handwerklichen Struktur der Lebensmittelwirtschaft in Deutschland empfiehlt der WBAE dem BMEL, eine wissenschaftsbasierte Toolbox entwickeln zu lassen, in der praxistaugliche und evaluierte Maßnahmen für definierte Produkte gebündelt sind. Für die Entwicklung der Toolbox empfiehlt der WBAE die Förderung von Forschungsvorhaben durch das BMBF, das BMEL, die EU, aber auch durch vorwettbewerbliche Industriemittel (zum Beispiel Forschungskreis der Ernährungsindustrie). Die Themen der Ausschreibungen sollten top-down für ausgewählte Produktgruppen vorgegeben werden.
  • Erreichung der Reformulierungsziele beobachten und gegebenenfalls lebensmittelrechtliche Vorgaben verschärfen (Adressat: Bund). Die aktuelle Reformulierungsstrategie basiert auf einer freiwilligen Selbstverpflichtung der Wirtschaft. Der WBAE geht davon aus, dass die empfohlene Einführung von Gesundheits- und Nachhaltigkeitslabeln (siehe Kapitel 9.6) sowie Nachhaltigkeitssteuern (siehe Kapitel 9.4) ein entscheidender Motor für weitere Reformulierungsbemühungen sein wird. Sollten die Reformulierungsziele trotzdem nicht erreicht werden, sollte das BMEL prüfen, für einzelne Produkte Richt- oder Grenzwerte festzulegen. Das vom BMEL geplante Verbot des Zusatzes von Zucker in Säuglings- und Kleinkindprodukten wird vom WBAE nachdrücklich unterstützt.

9.7.4 Lebensmittelabfälle effizient reduzieren

Das Ziel der Bundesregierung «Halbierung der vermeidbaren Lebensmittelabfälle im Handel und bei den Verbraucher*innen bis zum Jahr 2030» ist ein für den Umwelt- und Klimaschutz wichtiges, aber auch ambitioniertes Reduktionsziel. Mit den bisherigen Politikansätzen ist dieses Ziel nach Auffassung des WBAE nicht erreichbar. Es gibt eine beachtliche Lücke zwischen dem gesellschaftlich breit akzeptierten Ziel und dem verfügbaren Instrumentarium. Auf der Ebene der Konsument*innen konzentriert sich letztlich alles auf Bildung und Informationsdarbietung. Aus den bisherigen Erfahrungen kann jedoch bislang keine gesicherte Aussage über die Reichweite dieser Instrumente bei Verbraucher*innen getroffen werden – in der derzeitigen Intensität des Einsatzes werden sie keinesfalls ausreichen, das gesetzte Ziel zu erreichen.

Die Instrumente in diesem Bereich müssen besser evaluiert und weiterentwickelt und die effizienten Instrumente müssen wesentlich intensiver eingesetzt werden. Die Datengrundlage wird sich zukünftig verbessern, da das BMEL regelmäßig über die Entwicklung der Lebensmittelabfälle über die gesamte Wertschöpfungskette berichten muss. Hierzu soll ein Monitoring aufgebaut werden. Der WBAE begrüßt, dass sich das BMEL mit der im Februar 2019 verabschiedeten «Nationalen Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung» einen konzeptionellen Rahmen erarbeitet hat. Daneben müssen aber auch neue Instrumente entwickelt werden, zum Beispiel zur Anpassung von Portionsgrößen.

Der WBAE empfiehlt:

  • Monitoring von Lebensmittelabfällen aufbauen (Adressat: Bund). Eine valide Datengrundlage ist zur Erfüllung der Berichtspflichten Deutschlands, besonders aber auch für die Evaluierung von Maßnahmen zur Abfallvermeidung erforderlich. Der WBAE empfiehlt dem BMEL, hierzu ein wissenschaftlich gestütztes Monitoring von Lebensmittelabfällen in Deutschland aufzubauen und die Daten für wissenschaftliche Analysen verfügbar zu machen.
  • Reduktionsmaßnahmen systematischer evaluieren (Adressat: Bund). Ein Monitoring von Lebensmittelabfällen ermöglicht es auch, Reduktionsmaßnahmen systematischer zu evaluieren. Dies ist erforderlich, um das Ziel der Halbierung der Lebensmittelabfälle möglichst effizient zu erreichen. Dazu sollten auch Zwischenziele gesetzt werden.
  • Kampagne «Zu gut für die Tonne» ausbauen (Adressat: Bund). Der WBAE empfiehlt dem BMEL, das Thema Lebensmittelverluste als Pilotfeld für die Umsetzung einer umfassenden Informationskampagne anzusehen. Hierfür sollte das BMEL seine 2012 gestartete Informationskampagne «Zu gut für die Tonne» konzeptionell und finanziell zu einer umfassenden Informationskampagne mit integrierter Social Media und digitaler Kommunikationsstrategie ausbauen. Die Kampagne sollte evaluiert und priorisiert sowie perspektivisch in das «digitale Ecosystem nachhaltigere Ernährung» integriert werden. Eine effektive Informationspolitik ist ohne ein umfangreiches, deutlich erhöhtes Budget in der Mediengesellschaft jedoch nicht zu realisieren. Die Höhe des dafür notwendigen Budgets sollte von den angestrebten anspruchsvollen Reduktionszielen abgeleitet werden.
  • Reduktionspotenzial verkleinerter Portionsgrößen erforschen (Adressat: Bund). Verkleinerte Portionsgrößen sind ein bisher wenig beachteter Ansatzpunkt zur Verringerung der Lebensmittelverluste (siehe auch Kapitel 9.7.1). Zielrichtung sollte es sein, die soziale Norm bezüglich angemessener Portionsgrößen (auf dem Teller, beim Selbstbedienungsbuffet, bei Verpackungen etc.) in der Gesellschaft neu zu kalibrieren. Das BMEL sollte hierzu Forschungs- und Innovationsprojekte fördern.
  • Tafeln stärker unterstützen (Adressat: Bund, Länder, Kommunen). Bund, Länder und Kommunen sollten Tafeln, die vermehrt in die Zubereitung von Mahlzeiten einsteigen wollen, durch Investitionshilfen unterstützen. Dies hätte auch positive Effekte auf das Problem der Ernährungsarmut und die Kommensalität. Darüber hinaus empfiehlt der Beirat eine staatlicherseits verstärkte infrastrukturelle Unterstützung der Tafeln, zum Beispiel durch Räumlichkeiten, Kühl- und Tiefkühllager und Transportfahrzeuge mit Kühlvorrichtung zur Einhaltung einer lückenlosen Kühlkette.
  • Eine gesetzliche Verpflichtung zur Abgabe von noch verzehrfähigen Lebensmitteln für Handel und Bäckereien prüfen (Adressat: Bund, Länder). Auf der Ebene von Handel und Außer- Haus-Verpflegung liegen nach Auffassung des WBAE Potenziale in der verstärkten Förderung von Strukturen, die die Weitergabe von noch zum Verzehr geeigneten Lebensmitteln erleichtern. Der Bund sollte prüfen, ob eine gesetzliche Verpflichtung zur Abgabe für Handel und für Bäckereien dabei sinnvoll unterstützen kann.
  • In der öffentlichen Gemeinschaftsverpflegung mit gutem Beispiel vorangehen (Adressat: Bund, Länder, Kommunen). Viele Maßnahmen zur Reduktion von Abfällen in der Außer- Haus-Verpflegung können zeitnah in der Gemeinschaftsverpflegung öffentlicher Einrichtungen umgesetzt werden. Der WBAE empfiehlt Bund, Ländern und Kommunen, in ihren Einrichtungen mit gutem (Management-)Beispiel voranzugehen und zum Beispiel in öffentlich geförderten Projekten entwickelte Planungstools auch einzusetzen respektive weiterzuentwickeln. Eine Umsetzung der aus gesundheitsund umweltpolitischer Sicht empfohlenen DGE-Standards würde zu einer Verringerung der Portionsgrößen und des Konsums beitragen und langfristig mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu einer Veränderung der sozialen Norm Fleisch führen («weniger und besser»).

9.8 Angebote in öffentlichen Einrichtungen verbessern – «Großküchen nachhaltiger gestalten»

Ein Gesundheitssystem, das in seinen Einrichtungen pflegebedürftige Personen betreut, aber Ernährung eher als Nebenthema ansieht und erhebliche Qualitätsdefizite in Kauf nimmt, versorgt nicht nur seine Klient*innen schlechter als möglich, sondern sendet auch ein kontraproduktives Signal in die Gesellschaft. Der WBAE empfiehlt, auch in den Bereichen Seniorenverpflegung sowie Krankenhaus- und Reha-Verpflegung Ernährung nicht nur aus einer versorgungspraktischen Perspektive zu betrachten, sondern eine hochwertige Qualität des Essens und der Ernährungsumgebung für die Klienten sicherzustellen.

9.8.1 Seniorenverpflegung neu denken: «Auf Rädern zum Essen»

Bis zum Jahr 2050 wird jede*r Dritte in Deutschland zur Generation 65 plus gehören – Tendenz steigend. Damit rücken die spezifischen Lebenslagen und Bedürfnisse von Seniorinnen und Senioren auch auf politischer Ebene zunehmend in den Fokus; bspw. werden in den Kommunen sowie auf Landesund Bundesebene zielgruppenspezifische Internetplattformen oder Vernetzungsstellen für die Seniorenernährung eingerichtet (siehe Kapitel 4.2.2.4). Der Beirat begrüßt diese Entwicklungen, hält die derzeitigen Maßnahmen aber angesichts der in Kapitel 4.2.2.4 aufgezeigten Problemlagen für nicht ausreichend und zu wenig aufeinander abgestimmt. Um die Ernährungs- und gesundheitsbezogene Versorgungssituation älterer Menschen zu verbessern, empfiehlt der WBAE:

  • Qualitätsstandards der DGE für die Seniorenverpflegung verpflichtend umsetzen (Adressat: Bund, Kommunen). Eine qualitativ hochwertige und auf die spezifischen Bedürfnisse älterer Menschen ausgerichtete Verpflegung sollte in allen stationären Einrichtungen und Mittagstischen verfügbar sein. Der WBAE empfiehlt dem Bund daher, den Betreibern von Senioreneinrichtungen die Umsetzung des DGE-Qualitätsstandards für die Seniorenverpflegung vorzuschreiben. Dessen Umsetzung sollte durch die bereits etablierten respektive noch zu schaffenden Vernetzungsstellen für die Seniorenernährung unterstützt werden.
  • Einrichtung dezentraler Mittagstische und kommunaler «Kümmerer» (Adressat: Kommunen, Bund). Vereinsamung ist, ebenso wie mangelhafte ernährungs- und gesundheitsbezogene Versorgungsstrukturen, ein großes Problem im Alter. Damit möglichst viele ältere Menschen beschwerdearm ihren Lebensabend genießen können, bedarf es vor allem einer Infrastruktur, die neben einer spezifischen gesundheitsbezogenen Betreuung eine soziale Teilhabe ermöglicht. Vor diesem Hintergrund begrüßt der Beirat die Einrichtung dezentraler Mittagstische («Auf Rädern zum Essen») und die zunehmend auf kommunaler Ebene eingeführten Systeme der «Kümmerer», in deren Rahmen hauswirtschaftliche Dienstleistungen oder Hilfestellungen bei der Beschaffung von Lebensmitteln und Mahlzeiten für ältere Menschen angeboten werden (siehe Kapitel 4.2.2.4). Der WBAE empfiehlt den Kommunen, solche Aktivitäten weiter auszubauen. Allerdings sollte eine Evaluierung des Wirkungsradius und der Akzeptanz solcher Maßnahmen erfolgen, letztlich auch im Hinblick darauf, inwieweit Versorgungsstrukturen geschaffen werden können, die nicht nur auf die Unterstützung von ehrenamtlichen Helfern angewiesen sind. Der Bund könnte solche Maßnahmen in ausgewählten Regionen Deutschlands durch ein Evaluationsprojekt begleiten.
Um die Datenlage zur Lebenssituation der Bevölkerungsgruppe 65 plus zu verbessern, empfiehlt der WBAE:
  • Monitoring der Versorgungssituation und Evaluation von Maßnahmen verbessern (Adressat: Bund, Länder, Kommunen). Die Datenlage zur Lebenssituation der Bevölkerungsgruppe 65 plus in Deutschland weist erhebliche Mängel auf (siehe Kapitel 4.2.2.4). Diese Mängel sollten vom Bund durch regelmäßige Erhebungen in dieser Altersgruppe behoben werden, sodass auf Basis eines solchen Monitorings gezielter Angebote für eine ausgewogene Ernährung geplant und durchgeführt werden können. Bei der Umsetzung durch die Kommunen sollten Bund und Länder die Evaluation unterstützen, das heißt die Erreichbarkeit der älteren Menschen, deren Zugang zu den Angeboten sowie die Wirksamkeit der Angebote selber analysieren. Ein besonderer Fokus ist hierbei auf die Altersarmut zu legen (siehe Kapitel 4.2.3).
  • Ernährungsscreenings einführen und Pflegepersonal und Ärzteschaft sensibilisieren (Adressat: Bund, GKV und PKV, Ärztekammer). Weltweit wird bei plötzlichem Gewichtsverlust älterer Menschen in Kliniken, stationären Einrichtungen oder den niedergelassenen Hausarztpraxen ein Screening auf Mangelernährung gefordert. Eine nachfolgende Untersuchung und Begleitung der Risikopatient*innen kann die individuellen Ursachen klären und ermöglicht spezifische Interventionen. Die Identifikation von Mangelernährung hat im Alter Vorrang. Die Durchführung eines Screenings könnte sowohl vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkasse und den Privaten Krankenkassen als auch von den Ärztekammern gefordert und durchgesetzt werden. Die Sensibilisierung von Pflegepersonal und Ärzteschaft kann darüber hinaus über einschlägige verpflichtende Fortbildungen erreicht werden (Anpassung der Fortbildungsordnung).

9.8.2 Gesundheitsförderndes Essen im Gesundheitssystem: «Den Zusammenhang zwischen Essen und Gesundheit erfahrbar machen»

Krankenhäuser und Reha-Kliniken, die wenig gesundheitsfördernde und sensorisch wenig überzeugende Mahlzeiten anbieten, vermitteln ihren Patient*innen ein ausgesprochen problematisches Bild von der Rolle der Ernährung für die Gesundheit. Sie verkennen auch die psychologische Rolle der Ernährung für die Gesundung und das Wohlbefinden. Obwohl eine gute Verpflegung ein wichtiger Patient*innen-Zufriedenheitsfaktor und damit eigentlich für das Marketing relevant ist, führt der Kostendruck im stationären Gesundheitswesen in vielen Fällen zu einer unzureichenden Beachtung der Ernährung.

Der WBAE empfiehlt der Bundesregierung:

  • Qualitätsstandards der DGE für die Verpflegung in Krankenhäusern und Reha-Kliniken verpflichtend umsetzen (Adressat: Bund, Länder, GKV und PKV). Der WBAE empfiehlt dem Bund und den Ländern, den Krankenhausträgern sowie den Versicherungsträgern, die Umsetzung der DGE-Qualitätsstandards für die Verpflegung in Krankenhäusern und Reha-Klinken vorzuschreiben und zu kontrollieren. Die Umsetzung sollte durch begleitende Forschungs- und Innovationsprojekte («WIE»-Programm, siehe Kapitel 8.2.4) unterstützt werden.
  • Möglichkeit einer Berücksichtigung qualitätsbezogener Faktoren in der Verpflegungsfinanzierung prüfen (Adressat: Bund, Länder, GKV und PKV). Der WBAE empfiehlt dem Bund und den gesetzlichen Krankenkassen sowie privaten Krankenversicherungen über den Gemeinsamen Bundesausschuss zu prüfen, ob qualitätsbezogene Indikatoren (zum Beispiel Ergebnisse externer Qualitätsprüfungen) in die Finanzierung der Verpflegungsleistungen als Faktor einfließen könnten (wie für medizinische Leistungen im Krankenhausstrukturgesetz 2015 umgesetzt).

9.9 Landbausysteme weiterentwickeln und kennzeichnen – «Öko und mehr»

Es ist eine große Herausforderung, die Nachhaltigkeit von Landbausystemen zu bewerten und zu vergleichen, weil zahlreiche ökonomische, soziale und ökologische Effekte erfasst, bewertet, gewichtet und – im Falle von Zielkonflikten – gegeneinander abgewogen werden müssen. Es gibt inzwischen eine Reihe von wissenschaftlichen Konzepten zur Nachhaltigkeitsbewertung (siehe Kapitel 5.2). Diese haben vor allem das Potenzial, die Landwirtschaft schrittweise nachhaltiger zu machen. Sie stoßen aber an ihre Grenzen, wenn es um die Perspektive der Verbraucher*innen geht, sodass diese umfassenden Bewertungskonzepte in Labellingsystemen bisher nicht genutzt werden.

Ein Spezifikum stellt der ökologische Landbau dar, der hinsichtlich der verschiedenen Nachhaltigkeitsaspekte sowohl Stärken als auch Schwächen aufweist, die in Abhängigkeit von Standort, Betriebstyp und Management des Betriebes variieren. Er weist bezüglich vieler Umweltgüter positive Effekte auf und kann daher zur Reduktion der gegenwärtigen umwelt- und ressourcenpolitischen Herausforderungen in Deutschland beitragen. Eine klare Schwäche des Ökolandbaus stellen allerdings die niedrigen Erträge dar. Erstens hat der Ökolandbau nach derzeitigem Wissens- stand produktbezogen auf Grund der niedrigen Erträge ähnlich hohe Treibhausgasemissionen wie der konventionelle Landbau und kann demnach nicht als grundsätzlich klimafreundlicher eingestuft werden (WBA und WBW 2016). Zweitens sind die niedrigen Erträge vor dem Hintergrund einer wachsenden Weltbevölkerung problematisch. Um mit dem Ökolandbau die gleiche Menge an Nahrungsmitteln zu produzieren wie mit konventionellen Methoden, müsste der Ackerbau in anderen Regionen intensiviert und/oder die Ackerfläche deutlich ausgedehnt werden.

Der WBAE unterstützt in der Gesamtschau eine Förderung des Ökolandbaus und empfiehlt ihn als ein Element eines nachhaltigeren Lebensmittelkonsums, und dies umso mehr, je stärker ein Konsum von Bioprodukten mit einer Reduktion des Konsums tierischer Produkte und einer Verringerung der Lebensmittelverschwendung einhergeht. Klar ist aber auch, dass eine schrittweise Ausdehnung des ökologischen Landbaus in Deutschland nicht das wesentliche respektive einzige Instrument sein sollte, um die landwirtschaftsbedingten Umweltprobleme zu lösen. Es sind darüber hinaus deutliche Anpassungen in der konventionellen Landwirtschaft notwendig. Perspektivisch reicht die Dichotomie zwischen «öko» und «konventionell» nicht aus. Denn vom Grundsatz her und global gedacht sind nachhaltigere Landbausysteme mit höherer Flächennutzungseffizienz als im Ökolandbau, wie er derzeit definiert ist, denkbar. Es ist jedoch bisher nicht gelungen, solche alternativen öko-effizienten Landbausysteme genau zu beschreiben, mit ausreichenden Kontrollen und daraus folgend mit ausreichender Glaubwürdigkeit bei den Verbraucher*innen zu versehen und so am Markt zu etablieren. Im Ergebnis hat der ökologische Landbau nach wie vor eine wichtige gesellschaftliche Funktion als «Benchmark» hin zu einer umweltfreundlicheren Landwirtschaft.

Der WBAE empfiehlt:

  • Öko-Förderung zielgerichtet weiterentwickeln (Adressat: Bund, Länder). Der WBAE hält eine spezifische Förderung des Ökolandbaus aus Nachhaltigkeitsgründen für sinnvoll, weil er wichtige Umweltleistungen erbringt und ein Innovationsfeld für Nachhaltigkeitsinnovationen ist (siehe Kapitel 5.2). Da die Umweltleistungen je nach Standort und Betriebstyp variieren, sollte die vorhandene Öko-Förderung dort, wo der Ökolandbau einen besonders hohen Nutzen stiftet, ausgebaut werden, beispielsweise durch eine höhere Förderung des Ökolandbaus in § 13 DüV-Gebietskulissen («roten Gebieten»). Hier können die verringerten Intensitäten des Ökolandbaus zum Grundwasserschutz beitragen; in Regionen mit hohen Tierdichten wirkt der reduzierte Besatz an Nutztieren je Hektar Fläche im Ökolandbau zudem besonders positiv. Um die Nachhaltigkeitsleistungen des Ökolandbaus zu erhöhen, sollten darüber hinaus im Rahmen der zweiten Säule der GAP die Kombinationsmöglichkeiten mit anderen Agrarumweltmaßnahmen für Ökobetriebe ausgebaut werden.
  • Positive Leistungen des Ökolandbaus in Abständen überprüfen (Adressat: Bund). Ökoprodukte können solange zu einem nachhaltigeren Warenkorb beitragen, wie die positiven Umwelteffekte des Ökolandbaus bei der Bewältigung der großen Umweltprobleme in Deutschland mehr Gewicht haben als die möglichen negativen Verlagerungseffekte. Da sich aber beide Landbausysteme weiterentwickeln und die Bewertung stark vom Grad der Ausdehnung des Ökolandbaus und den sonstigen Veränderungen im Ernährungssystem (zum Beispiel Umfang des Konsums tierischer Produkte) abhängt, ist diese positive Einschätzung für Ökoprodukte in Abständen zu überprüfen – zum Beispiel wenn der Ökolandbau in Deutschland den politisch erwünschten Flächenanteil von 20 Prozent erreicht hat.
  • Nachhaltigere Landbewirtschaftungssysteme entwickeln und für Lebensmittelverarbeiter und in weiteren Entwicklungsschritten auch für Verbraucher*innen erkennbar machen (Adressat: Bund). Für eine nachhaltige Entwicklung ist es sinnvoll, sowohl an der Weiterentwicklung des Systems Ökolandbau (Ziel: Verringerung der Ertragslücke zwischen ökologischem und konventionellem Landbau) als auch an Landbausystemen zu arbeiten, die hinsichtlich der Umweltleistungen mit dem Ökolandbau mithalten können, aber höhere Erträge erzielen. Damit ein verlässliches Labelling dieser Landbausysteme möglich ist, müssen die Betriebe oder Produkte zu einem vertretbaren Kontrollaufwand valide und zuverlässig geprüft werden können. Im Unterschied zu Klimawirkungen sowie Tierwohlaspekten lassen sich jedoch andere wichtige Aspekte der Nachhaltigkeit, etwa die Auswirkungen auf die Biodiversität, weniger gut produktspezifisch ausdrücken und sind daher bisher nur begrenzt labelfähig. Eine Möglichkeit könnte eine zusammenfassende Nachhaltigkeitsbewertung von landwirtschaftlichen Betrieben sein, die es erlauben würde, Betriebe (und die dort produzierten Produkte) in verschiedene Nachhaltigkeitsstufen einzuordnen (siehe Kapitel 5.2.3). Der WBAE hat in seiner Stellungnahme zur GAP nach 2020 (WBAE 2019) unter anderem ein Ökopunktemodell als einen möglichen Ansatz gewürdigt, um die Ökosystemdienstleistungen im Rahmen der agrarischen Landnutzung zu erfassen. Solche Ansätze ließen sich aus Sicht des WBAE perspektivisch in Richtung eines zertifizierungsfähigen Landbaustandards und damit eines Labels weiterentwickeln. Dieses (wie beim Tierschutz gegebenenfalls mehrstufige) Label könnte zum einen den Lebensmittelverarbeitern und -händlern bei ihrer Einkaufspolitik helfen, zum anderen den Konsument*innen bei der Wahl ihrer Lebensmittel. Die heute z. T. sehr polarisierte Diskussion um Umweltschutz in der Landwirtschaft würde versachlicht. Der Bund sollte die Forschung zur Entwicklung und Definition von umweltfreundlichen Landbausystemen und deren praktische Erprobung in Pilotprojekten fördern. Dabei sollten von vornherein die Kontrollier- und Zertifizierbarkeit zu möglichst niedrigen Kosten mit beachtet werden. Zertifizierbarkeit ist vor allem dann wichtig, wenn die Zahlungsbereitschaft der Konsument*innen für besonders umweltfreundliche Produkte in Teilsegmenten des Marktes genutzt werden soll, um die Mehrkosten in der Produktion zu decken.
  • Klimalabel entwickeln und einführen (Adressat: Bund). Sowohl im konventionellen, als auch im Ökolandbau können die Treibhausgasemissionen teilweise deutlich reduziert werden. Durch ein Klimalabel (siehe Kapitel 9.6.4) könnte die Bundesregierung Anreize setzen, dass bei Lebensmitteln insgesamt, sowohl im konventionellen als auch im ökologischen Landbau, Treibhausgasemissionen gesenkt werden. In Kombination mit einem Tierschutzlabel (siehe Kapitel 9.6.5) ermöglicht ein Klimalabel, dass Verbraucher*innen Produkte in Bezug auf die durch Landbausysteme besonders stark beeinflussten Nachhaltigkeitsdimensionen Umwelt und Tierwohl im Vergleich einordnen können.
  • Technologieentwicklungen hinsichtlich deren Nachhaltigkeitsbewertung und Zulassungspraxis überdenken (Adressat: EU, Bund, Länder). Neue Technologien, die zum Beispiel in den Bereichen Robotik, Sensorik und Genome Editing entwickelt werden, können neue Perspektiven für eine nachhaltigere Ernährungssicherung und die Verringerung negativer Umwelteffekte der Anbausysteme eröffnen. Pflanzenschutzmittel, selektiv und zielorientiert eingesetzt, können Nahrungsmittelverluste verringern und zu nachhaltigeren Anbausystemen beitragen. Die politischen Entscheidungsträger*innen sollten darauf achten, dass die Potenziale von technologischen Lösungsbeiträgen für eine nachhaltigere Produktion nicht «verschenkt» werden. Ansonsten drohen hierdurch unerwünschte Verlagerungen der Produktion in Regionen respektive Länder mit niedrigeren Umwelt- und Klimaschutzstandards. Der gesellschaftliche Diskurs um Technologieentwicklungen im Agrar- und Ernährungssystem sollte verstärkt werden.

9.10 Politikfeld «Nachhaltigere Ernährung» aufwerten und institutionell weiterentwickeln – «Eine integrierte Ernährungspolitik etablieren»

Ernährung ist ein zentrales Feld eines nachhaltigen Konsums. Sie liefert wichtige Beiträge für das Erreichen zentraler Nachhaltigkeitsziele und kann nachweislich zu einem gelingenden Leben und zu einem Mehr an gesunden Lebensjahren und Wohlbefinden für alle beitragen. Politik für nachhaltigere Ernährung ist vor diesem Hintergrund als langfristig angelegtes Politikfeld verstärkt zu etablieren. Derzeit ist Ernährungspolitik als eher junges Politikfeld (siehe Kapitel 7) konzeptionell und institutionell noch nicht so entwickelt wie zum Beispiel die Agrarpolitik. Ernährungspolitik verfügt über ein ungleich geringeres Budget, und in der Vergangenheit war sie häufig zu stark auf Einzelinstrumente (besonders auf informationspolitische Elemente) statt auf zielgerichtete Maßnahmenkombinationen fokussiert.

Im Hinblick auf die in Kapitel 8 entwickelten Entscheidungsfelder einer ernährungspolitischen Strategie (siehe Kapitel 8.1) ist daher eine Neuausrichtung notwendig: Der Staat soll verstärkt in die Verantwortung genommen werden und Ernährungsumgebungen gezielt gestalten und verbessern, damit Verbraucher (m/w/d) entlastet und mehr sowie nachhaltigere Wahlmöglichkeiten erhalten. Um die Reichweite von Ernährungspolitik zu erhöhen, ist eine Konzentration auf zentrale Handlungsfelder erforderlich. Es sollte ein breiter und abgestimmter Instrumentenmix umgesetzt werden, mit einer Stärkung der Ordnungsrechte, verstärkten ökonomischen Anreizen und verlässlicheren Informationen, um die Wahlmöglichkeiten für Verbraucher (m/w/d) zu erhöhen. Umfassende nachfrageseitige Instrumente sollten eingeführt werden, um eine bessere Verknüpfung nachfrage- und angebotsseitiger Instrumente zu erreichen. Es ist eine klare Zielgruppenorientierung erforderlich, damit auch vulnerable Gruppen (Kinder, von Ernährungsarmut betroffene Haushalte) stärker berücksichtigt werden.

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Abbildung 9-2: Neuausrichtung der Ernährungspolitik entlang von fünf Entscheidungsfeldern (Quelle: WBAE).

Das BMEL sollte sich verstärkt darum bemühen, empirische Evidenz zur Implementierung und Wirksamkeit von Maßnahmen zur Konsumveränderung zu generieren (siehe «WIE»-Progamm, Kapitel 8.2.4). Landwirtschaft und Ernährung sind gesellschaftlich heftig umstrittene Politikfelder. Eine regelungsintensivere Politik zur Gestaltung einer fairen Ernährungsumgebung birgt das Potenzial für weitere Auseinandersetzungen. Eine sachlich angemessene empirische Fundierung kann die unterschiedlichen Wertvorstellungen (zum Beispiel hinsichtlich der Bedeutung von Konsumentensouveränität versus der Notwendigkeit des Schutzes verletzlicher Verbraucher (m/w/d), siehe Kapitel 6.3) nicht auflösen, sie kann aber verhindern, dass eine Politik für nachhaltige- re Ernährung auf Annahmen über Wirkungszusammenhänge beruht, die empirisch falsch sind. Für eine fachlich angemessene empirische Fundierung von Politik für nachhaltigere Ernährung ist zentral, dass die Evaluierung von Politikmaßnahmen allgemein anerkannten wissenschaftlichen Qualitätsstandards genügt. Dazu zählen besonders die Vorabspezifizierung der Maßnahme, der Zielkriterien und des Untersuchungsdesigns sowie eine angemessene Datenauswertung. Goldstandard für das Untersuchungsdesign sind randomisierte, kontrollierte Studien (RCT). Aber auch eher «pragmatische» Untersuchungsdesigns können genutzt werden (siehe Kapitel 8.2.4). Solche «Learning-by-Doing»-Ansätze (siehe auch WBAE und WBW 2016) können belastbare Daten zur Wirksamkeit von Maßnahmen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen generieren, auf deren Grundlage staatliche Maßnahmen implementiert und weiterentwickelt werden können.

Der WBAE empfiehlt, das Politikfeld «Nachhaltigere Ernährung» durch die folgenden Maßnahmen aufzuwerten und institutionell weiterzuentwickeln:

  • Politikfeld «Nachhaltigere Ernährung» mit einem verstärkten, den großen Herausforderungen angemessenem Budget ausstatten (Adressat: Bund).
  • Konsistente Ziele und Indikatoren für das Politikfeld «Nachhaltigere Ernährung» entwickeln (Adressat: Bund). Es sollte ein konsistentes Ziel- und Indikatorensystem für eine nachhaltigere Ernährung aufgebaut werden, welches die vier zentralen Dimensionen und eine jeweils überschaubare Zahl von Zielen und zugehörige Indikatoren umfasst. Diese Ziele, die Indikatoren und deren Erreichung sollten von der Bundesregierung öffentlich kommuniziert werden. Die wichtigsten davon sollten in die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung eingebunden werden.
  • Vernetzung der zuständigen Ministerien verstärken – unter anderem «Interministerielle Arbeitsgruppe Nachhaltigere Ernährung» einrichten (Adressat: Bund). Es sollten verstärkte Anstrengungen zur interministeriellen Vernetzung der Ernährungspolitik unternommen werden. Zentrale Interdependenzen bestehen auf Bundesebene zwischen BMEL, BMU und BMG, sodass sowohl auf Arbeitswie auf Leitungsebene dauerhafte wie projektbezogene Vernetzungen ausgebaut werden sollten. Der WBAE schlägt die Einrichtung einer «Interministeriellen Arbeitsgruppe Nachhaltigere Ernährung» vor, in die BMEL, BMU und BMG sowie BMZ, BMAS, BMJ und BMFSFJ eingebunden sein sollten. Große Anforderungen an die Vernetzung stellt der vom WBAE empfohlene Ausbau der Kita- und Schulverpflegung. Aufgrund der politischen Mehrebenenproblematik, der finanziellen Implikationen und der inhaltlich gebotenen Verknüpfung mit Bildungszielen sind die Herausforderungen hier besonders hoch (siehe dazu im Einzelnen Kapitel 9.2).
  • Ernährungspolitik im BMEL aufwerten (Adressat: Bund). Eine Politik für eine nachhaltigere Ernährung ist ein umfassendes Querschnittsthema, das mehrere Bundesministerien betrifft. Eine prioritäre Ansiedlung im BMEL weist Vor- wie Nachteile auf (siehe Kapitel 7). Zentrale Herausforderung ist vor dem Hintergrund der Tradition des Hauses, dass im Konfliktfall, zum Beispiel bei einem Thema wie der Reduktion des Konsums tierischer Erzeugnisse, agrarwirtschaftliche Interessen dominieren. Der WBAE empfiehlt dem BMEL daher, den Bereich der Ernährungspolitik im Ministerium weiter aufzuwerten. Die Sicherstellung einer nachhaltigeren Ernährung ist aus gesellschaftlicher Sicht vordringlich gegenüber sektoralen Interessen. Eine stärkere Einbindung weiterer Ministerien wie BMG und BMU wäre ein wichtiger Beitrag zur Verstärkung einer umfassenden Nachhaltigkeitsorientierung.
  • DGE und BZfE stärken (Adressat: Bund). Um Verbraucher- und Gesundheitsinteressen institutionell zu gewährleisten, empfiehlt der WBAE dem BMEL, die DGE und das neu eingerichtete Bundeszentrum für Ernährung (BZfE) in den nächsten Jahren besonders zu fördern. DGE und BZfE sollten über ausreichend finanzielle Mittel verfügen, um ihre satzungsgemäß verankerten Aufgaben auch langfristig wahrnehmen zu können. Dabei übernimmt die DGE die unabhängige wissenschaftliche Bewertung der Kernfragen auf dem Gebiet der Ernährung und die Ableitung von evidenzbasierten Empfehlungen und Standards auf Basis einschlägiger wissenschaftlicher Forschung. Digitale Innovation, Anwendungen und Datenbanken sowie «digitale Ecosystems» bieten hier zunehmend neue Möglichkeiten und stellen neue Anforderungen an die Ableitung evidenzbasierter Empfehlungen und Standards (zum Beispiel im Rahmen eines «digitalen Ecosystems nachhaltigere Ernährung», siehe Kapitel 8.10.4). Diesen Bereich sollte die DGE zusätzlich und verstärkt in den Blick nehmen und dabei besonders unterstützt werden. Das BZfE sollte darin bestärkt werden, Verbraucher*innen in den Fokus zu nehmen und sich zu einem Zentrum der evidenzorientierten Kommunikation für Ernährungsfragen in Deutschland weiterentwickeln. Die Implementierung und Wirkung von Kommunikationsmaßnahmen sollte dabei nach wissenschaftlichen Qualitätsstandards evaluiert und implementiert werden (siehe Kap 8.2.4, Implementierungs- und Evaluierungsprogramm («WIE»-Programm)).

Als zentrale Bestandteile der Aufwertung und institutionellen Weiterentwicklung hin zu einer integrierten Ernährungspolitik empfiehlt der WBAE weiterhin:

  • Ernährungspolitische Instrumente sinnvoll kombiniert einsetzen (Adressat: Bund). Der WBAE empfiehlt der Bundesregierung, ernährungspolitische Instrumente verstärkt in Kombination (das heißt in Form eines abgestimmten Instrumentenmixes) einzusetzen. Der WBAE plädiert für ein ausgewogeneres Verhältnis von freiwilligen Maßnahmen und gesetzlichen Regulierungen. Die Entwicklung eines geeigneten Instrumentenmixes ist konzeptionell anspruchsvoll. Die Bundesregierung sollte lernend vorgehen, das heißt mit Betonung auf evidenzbasierter Gestaltung und Evaluation. Die einzelnen Maßnahmen haben für sich jeweils nur begrenzte (schwache bis moderate) Effekte. Gemeinsam und im Zeitablauf können sie jedoch beachtliche Wirkung entfalten.
  • Implementierung und Wirksamkeit ernährungspolitischer Maßnahmen umfangreich untersuchen (Adressat: Bund, Länder). Der WBAE empfiehlt, Bund und Ländern, die Implementierung und Wirksamkeit von ernährungspolitischen Maßnahmen umfangreicher als bisher und nach allgemein anerkannten wissenschaftlichen Standards zu untersuchen, um evidenzbasierte Entscheidungen treffen zu können (siehe «WIE»-Progamm, Kapitel 8.2.4). Solche «Learning-by- Doing»-Ansätze können belastbare Daten zur Wirksamkeit von Maßnahmen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen generieren, auf deren Grundlage staatliche Maßnahmen implementiert und weiterentwickelt werden können. Zudem sollten internationale Erfahrungen und Ergebnisse kontinuierlich ausgewertet werden.
  • Monitoring ernährungspolitisch relevanter Entwicklungen ausbauen (Adressat: Bund, Länder). Der WBAE empfiehlt dem BMEL zu veranlassen, dass ein wissenschaftliches Monitoring im Bereich sozialer Nachhaltigkeitsziele in der Ernährung aufgebaut wird. Das ernährungs- und gesundheitsheitsbezogene Monitoring sollte mit Fokus auf die Risikogruppen (wie Kinder, ältere Menschen und von Ernährungsarmut betroffene und bedrohte Menschen) zielgruppenspezifisch ausgebaut werden. Studien zur Ernährungs- und Gesundheitssituation wie bspw. die Nationale Verzehrsstudie (NVS) sollten grundsätzlich auch nach Einkommensklassen ausgewertet werden (siehe Kapitel 9.5).
  • Monitoringdaten öffentlicher Forschungseinrichtungen schneller für die Forschung verfügbar machen (Adressat: Bund, Länder). Bund und Länder sollten veranlassen, dass von öffentlichen Forschungseinrichtungen erhobene Daten zum Ernährungsmonitoring schneller für weitere wissenschaftliche Auswertungen bereitgestellt werden. Zur Verbesserung des Monitorings ist es aus Sicht des WBAE zwingend, die Daten frühzeitig und umfassend als Scientificoder Public-Use-File für wissenschaftliche Fragestellungen zur Verfügung zu stellen, um eine umfassende wissenschaftliche Auswertung zu beschleunigen. Ein positives Beispiel hierfür ist die KIGGS-Studie Welle 2.
  • Bericht «Nachhaltige Ernährung» auflegen (Adressat: Bund). Der WBAE empfiehlt dem BMEL, sich für das Politikfeld «Nachhaltigere Ernährung» langfristige und evaluierbare Ziele zu setzen, die die Schnittmengen von gesundheitsfördernder, sozialer, umweltfreundlicher und tierwohlorientierter Ernährung adressieren. Zur Überprüfung dieser Ziele sind Monitoringsysteme in den Teilfeldern entsprechend anzupassen oder zu entwickeln und Ergebnisse gebündelt in einem zum Beispiel vierjährlichen Bericht «Nachhaltige Ernährung» darzustellen.
  • «Digitales Ecosystem nachhaltigere Ernährung» schaffen (Adressat: Bund). Die momentan angebotenen Apps und digitalen Anwendungen sind häufig sehr spezifisch für bestimmte Teilaspekte des täglichen Konsum- und Ernährungsverhaltens konzipiert. Das BMEL sollte die Entwicklung und die kontinuierliche Weiterentwicklung eines «digitalen Ecosystems nachhaltigere Ernährung» veranlassen, das Anwendungen und Daten für den gesamten Verhaltensprozess zur Verfügung stellt und verständlich integriert, sodass die Anwendungen für die Verbraucher (m/w/d) leichter («convenient»), schneller («just-in-time») und personalisiert («tailored») im Alltag verfügbar sind. Dies sollte es Verbraucher*innen ermöglichen, ihre Rolle als verantwortliche Akteure in der Marktwirtschaft stärker wahrzunehmen. Dazu sollten bestehende und neue Dienste und Anwendungen im Umfeld der Ernährung integriert werden (siehe Kapitel 9.6.7).
  • Valide, integrierte Open-access-Datenbasis («Bundesnachhaltigkeitsschlüssel») schaffen (Adressat: Bund). Als Grundlage für die Entwicklung von Labeln, informationsbasierten digitalen Anwendungen (zum Beispiel Apps) wie auch eines «digitalen Ecosystems nachhaltigere Ernährung» (siehe Kapitel 9.6.7) und damit auch die Verbraucher*innen leichter, schneller und besser nachvollziehen können, anhand welcher Kriterien und auf welcher Datengrundlage die momentan angebotenen Apps etwas empfehlen respektive bewerten, ist es essentiell, dass mehr validierte und hochwertige, allgemein zugängliche Datenbanken zur Verfügung gestellt werden. Der WBAE empfiehlt dem BMEL deshalb, den Bundeslebensmittelschlüssel als grundlegende und kostenfreie Datenbank weiter zu einem «Bundesnachhaltigkeitsschlüssel» auszubauen und Daten zur Klimabelastung und auch weitere Nachhaltigkeitsdaten aufzunehmen sowie die entsprechende Infrastruktur bereitzustellen. Auf Basis einer solchen staatlich finanzierten Dateninfrastruktur könnten dann Unternehmen und andere Einrichtungen entsprechende Anwendungen entwickeln.
  • Ausgaben der Krankenkassen für Prävention verstärkt im Präventionsfeld Ernährung sowie sach- und evidenzorientiert einsetzen (Adressat: Bund, GKV). Der WBAE empfiehlt der Bundesregierung darauf hinzuwirken, dass die Krankenkassen die Mittel, die sie für Prävention ausgeben, verstärkt und evidenzbasiert für den Bereich Ernährung einsetzen. Die Implementierung und Wirkung von Maßnahmen sollte nach wissenschaftlichen Qualitätsstandards evaluiert werden (siehe Kapitel 8.2.4, Implementierungs- und Evaluierungsprogramm, «WIE»- Programm). Institutionell sollte eine stärkere Vernetzung von ernährungs- und gesundheitspolitischen Institutionen inklusive Krankenversicherungen, DGE, BZfE und MRI angestrebt werden.
  • Freiwillige Maßnahmen mit klaren Transparenz- und Zielvorgaben versehen (Adressat: Bund). Freiwillige Maßnahmen sollte auf diejenigen Fragestellungen begrenzt werden, bei denen eine erfolgreiche Selbstregulierung erwartet werden kann (siehe Kapitel 8.12). Die Bundesregierung sollte klare Richtlinien für mehr Transparenz und Zielorientierung im Dialogprozess mit der Wirtschaft aufstellen, einschließlich eines begleitenden externen Monitorings von Prozessen und Ergebnissen. Dies sollte auch eine stärkere Wissenschaftsorientierung beinhalten. Nationale Aktionsplattformen unter Beteiligung von Wissenschaft, Industrie, Gesundheitsorganisationen und Verbraucherschutz können ein sinnvolles Instrument hybrider Governance-Ansätze sein, nämlich dann, wenn sie verbindliche und überprüfbare Ziele enthalten und transparent ausgestaltet sind.

9.11 Finanzierung einer Politik für eine nachhaltigere Ernährung

In den vorhergehenden Empfehlungen sind die finanziellen Implikationen der vorgeschlagenen Maßnahmen für die öffentlichen Haushalte teilweise bereits aufgeführt. Tabelle 9-1 fasst die wichtigsten Mehreinnahmen und Mehrausgaben des Staates durch die vorgeschlagenen Maßnahmen zusammen.

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Tabelle 9-1: Größenordnungen der jährlichen Mehreinnahmen und Mehrausgaben des Staates durch die budgetrelevantesten ernährungspolitischen Maßnahmen (Quelle: WBAE).

Die Abschaffung der Mehrwertsteuervergünstigung für tierische Erzeugnisse sowie die Einführung einer Verbrauchssteuer für zuckerhaltige Getränke erbringen Mehreinnahmen von insgesamt zirka 5 bis 7 Milliarden Euro pro Jahr, wovon etwa 54 Prozent auf den Bund, etwa 44 Prozent auf die Länder und rund 2 Prozent auf die Kommunen entfallen.

Weitere Mittel für einen Ausbau der Ernährungspolitik könnten aus den Mitteln des Präventions- gesetzes (Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention, PrävG) kommen, dessen Budget von insgesamt zirka 500 Millionen Euro/Jahr möglicherweise in größerem Umfang für eine gesunde Ernährung, besonders in der Gemeinschaftsverpflegung in Kitas, Schulen, Kommunen, Betrieben und Pflegeeinrichtungen verfügbar gemacht werden könnte. Diese Quelle ist in Tabelle 9-1 nicht erfasst, da es sich nicht um zusätzliche Staatseinnahmen, sondern um eine Mittelverschiebung handeln würde.

Die zusätzlichen jährlichen Mehrwert- und Verbrauchssteuereinnahmen für Bund und Länder würden für Bund und Länder ausreichen, um die empfohlene Absenkung der Mehrwertsteuer auf Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte, die Kompensation der 40 Prozent einkommensschwächsten Haushalte mit jeweils 50 Euro pro Kopf und Jahr und einen Beitrag von etwa 2 Milliarden Euro für den Umbau hin zu einer tierfreundlicheren Nutztierhaltung zu finanzieren.

Veranschlagt man allerdings auch die mit einer Summe von jährlich etwa 5,5 Milliarden Euro hohen zusätzlichen Kosten für eine staatlich finanzierte Kita- und Schulverpflegung, entsteht in der Summe über Bund und Länder eine Finanzierungslücke von 2,7 bis 4,3 Milliarden Euro jährlich, die durch zusätzliche Steuereinnahmen oder verringerte Ausgaben für andere Politikfelder gedeckt werden müsste. Zu berücksichtigen ist hierbei zudem, dass die Kosten für die beitragsfreie Verpflegung von den Kommunen zu tragen wären, was Fragen der Steuerverteilung aufwirft. Die notwendigen baulichen und technischen Investitionen (einmalige Investitionen von 2,4 bis zu 18 Milliarden Euro) sollte der Bund gestützt auf Art. 104c GG zu einem wesentlichen Teil über einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren übernehmen.

Nicht veranschlagt sind in Tabelle 9-1 die zusätzlichen Kosten für die öffentlichen Haushalte, die sich aus den übrigen vorgeschlagenen Maßnahmen ergeben, wie aus dem Begleitforschungsprogramm zum Ausbau der Kita- und Schulverpflegung, aus der Umsetzung der DGE- Qualitätsstandards in Senioreneinrichtungen, Krankenhäusern und öffentlichen Verwaltungen, aus Investitionen zum öffentlichen Trinkwasserangebot, aus dem Ausbau des Monitorings, aus den deutlich auszubauenden Informationskampagnen («Zu gut für die Tonne», Label), aus dem Aufbau «digitaler Ecosystems», der Entwicklung von Nachhaltigkeitslabeln und aus dem Ausbau der Dateninfrastruktur des Bundeslebensmittelschlüssels. Die Empfehlungen des Gutachtens erfordern damit eine deutliche Erhöhung des Budgets für ernährungspolitische Maßnahmen, und dies auf den unterschiedlichen Politikebenen, von den Kommunen bis zum Bund.

Volkswirtschaftlich stehen diesen Präventions- und Nachhaltigkeitsaufwendungen erhebliche Einsparpotenziale gegenüber. So substituieren die staatlichen Aufwendungen für die Kita- und Schulverpflegung Ausgaben der Eltern, die wahrscheinlich höher liegen, wenn man Opportunitätskosten der Zeit einbezieht, die Eltern für die Zubereitung von Mahlzeiten aufwenden müssten, wenn ihre Kinder nicht in der Kita respektive Schule essen. Langfristig bieten die meisten der vorgeschlagenen Maßnahmen erhebliche Potenziale zur Reduktion von Gesundheits- und Umweltkosten, zu mehr Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden. Durch eine Veränderung von Ernährungsstilen, besonders durch die Reduktion des Konsums tierischer Produkte, können Verbraucher (m/w/d) zudem Kosten sparen. Dem Agrarsektor dagegen verlangt sie – ähnlich wie eine stärkere Berücksichtigung des Tierwohls – hohe Anpassungsleistungen zur Umstellung auf wertschöpfungsorientierte Strategien ab, die von der Politik begleitet werden müssen.

9.12 Fazit

Die Art und Weise, wie wir uns ernähren, beeinflusst wesentlich unseren individuellen Gesundheitsstatus, unsere Lebensqualität und unser Wohlbefinden. Viele Lebensmittel tragen einen großen sozialen, umwelt-, klima- und tierschutzbezogenen Fußabdruck. Die Herausforderungen sind groß. Die notwendigen Fortschritte werden nur mit einer umfassenden Transformation des heutigen Ernährungssystems erreichbar sein.

Die Frage, was eine nachhaltigere Ernährung ausmacht, ist schwieriger zu beantworten, als in der Öffentlichkeit vielfach vermutet. Gleichzeitig sind wir als Konsumentinnen und Konsumenten mit Ernährungsumgebungen konfrontiert, die ein nachhaltigeres Einkaufen und Essen erschweren. Der WBAE empfiehlt im vorliegenden Gutachten, Verbraucher (m/w/d) durch die Gestaltung angemessener Ernährungsumgebungen bei der Realisierung einer nachhaltigeren Ernährung deutlich stärker als bisher zu unterstützen. Dazu gilt es erstens, solche Faktoren in den heute vorherrschenden Ernährungsumgebungen, die eine nachhaltigere Ernährung erschweren (zum Beispiel große Portionsgrößen, hohe Werbeausgaben für wenig gesundheitsfördernde Lebensmittel) zu reduzieren. Dazu gilt es zweitens, mehr gesundheitsfördernde, sozial-, umwelt- und tierwohl- verträgliche Wahlmöglichkeiten zu bieten, ein Erkennen nachhaltigerer Varianten zu erleichtern, einen einfacheren Zugang zu Informationen zu ermöglichen und Preisanreize zu setzen, die es naheliegender machen, die nachhaltigere Wahl zu treffen.

Der WBAE bezeichnet solche Ernährungsumgebungen als fair, weil und insofern sie (1) auf unsere menschlichen Wahrnehmungs- und Entscheidungsmöglichkeiten sowie Verhaltensweisen abgestimmt sind und (2) gesundheitsfördernder, sozial-, umwelt- und tierwohlverträglicher sind und damit zur Erhaltung der Lebensgrundlagen heutiger und zukünftig lebender Menschen beitragen. Bestehende Rahmenbedingungen sind in Deutschland wenig hilfreich, die Verantwortung wird zu stark auf das Individuum verlagert, und viele verfügbare Unterstützungsinstrumente werden nicht genutzt. Deutschland ist in dieser Hinsicht im europäischen Vergleich Nachzügler (siehe Kapitel 6). Der Verweis auf die Notwendigkeit von fairen Ernährungsumgebungen impliziert, dass eine Politik für nachhaltigere Ernährung in Deutschland deutlich mehr und eingriffstiefere Instrumente wie beispielsweise Lenkungssteuern erfordert. Mit dem vorliegenden Gutachten legt der WBAE Empfehlungen für wichtige Schritte hin zu fairen Ernährungsumgebungen vor. Ein zentraler Ansatzpunkt ist eine hochwertige und beitragsfreie Kita- und Schulverpflegung.

Der WBAE empfiehlt eine umfassende Neuausrichtung und Stärkung des Politikfeldes Ernährung, dass die vier Nachhaltigkeitsdimensionen Gesundheit, Soziales, Umwelt und Tierwohl integriert. Es bedarf eines lernenden Politikansatzes, basierend auf langfristigen und überprüfbaren Zielen. Der notwendige Instrumentenmix sollte konsequent erprobt, evaluiert und evidenzbasiert angepasst werden. Dies erfordert eine stärkere Vernetzung zwischen den Ressorts (besonders Ernährung und Landwirtschaft, Gesundheit, Umwelt) auf den verschiedenen Politikebenen, von der Kommune bis zur EU, sowie den Ausbau personeller Kapazitäten mit deutlichen Budgeterhöhungen für die Ernährungspolitik.

Die vorgeschlagene integrierte Ernährungspolitik mit aufeinander abgestimmten, zum Teil deutlich eingriffstieferen Maßnahmen als bisher stellt einen wichtigen und notwendigen Schritt dar, um unsere Gesundheit, unsere Umwelt und unser Klima zu schützen, Ernährungsarmut zurückzudrängen, soziale Mindeststandards einzuhalten und das Tierwohl zu erhöhen. Faire Ernährungsumgebungen schützen uns alle und nützen uns allen. Die Realisierung der empfohlenen Maßnahmen erfordert erhebliche staatliche Mehrausgaben. Im Verhältnis zu den derzeitigen und zukünftig zu erwartenden hohen gesellschaftlichen und individuellen (Folge) Kosten unserer gegenwärtigen Ernährung stellen diese Mehrausgaben jedoch eine gesamtgesellschaftlich gebotene Investition dar. Eine zeitliche Verschiebung der erforderlichen Neuausrichtung würde sowohl die zu adressierenden Problemlagen als auch den erforderlichen Anpassungsbedarf verschärfen. Die in diesem Gutachten vorgelegte Analyse zeigt: Eine umfassende Transformation des Ernährungssystems ist sinnvoll, sie ist möglich und sie sollte umgehend begonnen werden (… im Original ist dieser Schlusssatz ebenfalls fett gedruckt).

20200821-WBAE-GUTACHTEN-ERNAEHRUNG-2020-ABB-ZF2(Quellenangabe Tabelle und alle Abbildungen zu diesem Beitrag: WBAE).