Donnerstag, 25. April 2024

Energiemangellage: Was heißt das in der (Schweizer) Praxis konkret?

Bern / CH. (bs) Ende August haben die vier eidgenössischen Verbände der Lebensmittelindustrie Fial, Chocosuisse, Biscosuisse und Primavera den Schweizer Bundesrat in einem gemeinsamen Schreiben auf die Versorgungsrelevanz des Sektors hingewiesen und eine Ausnahme von allfälligen Energie-Bewirtschaftungsmaßnahmen beantragt. Das gemeinsame Schreiben der Verbände finden Interessenten hier auf biscosuisse.ch zum Download. Der Brief führt eindrucksvoll vor Augen was passiert, sollte eine Energiemangellage zu, wenn auch kontrollierten, so doch stundenweisen Unterbrechungen führen. Für alle Leser ohne Desktop aber mit Smartphone hat die Redaktion eine Abschrift wie folgt angefertigt.


Das passiert bei einer potenziellen Energiemangellage

Die Schweizer Nahrungsmittelindustrie begrüßt die am 24. August 2022 vom Bundesrat beschlossenen Grundsätze für eine mögliche Gasmangellage. Das verabschiedete vierstufige Maßnahmenpaket macht aus Sicht unserer Branche Sinn; besonders unterstützen wir den Bundesrat in seiner Haltung, wonach lebenswichtige Güter und Dienstleistungen von weitergehenden Bewirtschaftungsmaßnahmen nicht wesentlich betroffen sein sollen. Im Namen der Schweizer Nahrungsmittelhersteller legen wir ihnen nachfolgend die Gründe dar, weshalb gerade die Lebensmittel aus unserer Sicht den vom Bundesrat als lebenswichtig klassierten Güter angehören.

Die drohenden Engpässe in der Versorgung mit Erdgas aber auch mit Elektrizität beschäftigen sowohl die Schweizer Zivilbevölkerung als auch die Wirtschaft stark. Die Schweizer Nahrungsmittelbranche ist gewillt, ihren Beitrag zur Vermeidung einer effektiven Mangellage zu leisten. Behördlich verordnete Bewirtschaftungsmaßnahmen hätten jedoch einschneidende Auswirkungen auf die Wirtschaft und sollten, wenn immer möglich, über Vorbereitungsmaßnahmen und einen freiwilligen Effort sowohl im privaten als auch im geschäftlichen Bereich verhindert werden. Wir unterstützen diesbezüglich die Eingabe von economiesuisse vom 09. August 2022.

Wir sehen die angespannte Situation und verstehen auch die komplexen Zusammenhänge. Bei den Unternehmen der Nahrungsmittelindustrie ist die Verunsicherung besonders groß, da sie von Bewirtschaftungsmaßnahmen besonders stark betroffen wären. Werden Bewirtschaftungsmaßnahmen effektiv nötig, müssen diese erstens die Systemrelevanz und die Betroffenheit unserer Branche beachten und zweitens zwingend auch die Privathaushalte einbeziehen. Bewirtschaftungsmaßnahmen «nur» bei der Wirtschaft hätten – vor allem in unserem Sektor – unmittelbare Auswirkungen auf die Konsumentinnen und Konsumenten. Mit anderen Worten bekäme der Konsument Bewirtschaftungsmaßnahmen bei den Nahrungsmittelherstellern direkt zu spüren, was einschneidende Folgen für die Stimmung der Konsumenten und damit für die politische Akzeptanz der behördlich getroffenen Maßnahmen hätte.

Dieser Verknüpfung hat die EU-Kommission im Rahmen der Vorlage ihres Plans zur Reduzierung des Gasverbrauchs aufgrund drohender Ausfälle von Gaslieferungen aus Russland bereits Rechnung getragen. In dem von den EU-Energieministern gutgeheißenen Plan vom 20. Juli 2022 wurde dem gesamten Lebensmittelsektor in den EU-Mitgliedsländern ein Sonderstatus eingeräumt, weil bei Sparmaßnahmen in diesem Bereich mit weitreichenden gesellschaftsschädigenden Folgen zu rechnen ist. In eine ähnliche Richtung scheint uns die Medienmitteilung des Schweizer Bundesrats zu weisen, die festhält: «Lebenswichtige Güter und Dienstleistungen dürfen nicht wesentlich betroffen sein.» Eine Kontingentierung auch der Privathaushalte, bei denen aber jeder seine eigenen Prioritäten setzen kann, ist aus unserer Sicht einfacher zu vermitteln und macht die Betroffenen zu Beteiligten.

Gerne illustrieren wir Ihnen die besondere Situation der Nahrungsmittelbranche (Großunternehmen und KMU) anhand von fünf Beispielen:

Beispiel 1: Einhaltung einer unterbruchslosen Kühlkette

Bei vielen Lebensmitteln wie Milch, Fleisch, Fisch aber auch bei Fertiggerichten, Hefe und Fertigteigen oder bei Rohstoffen zur Weiterverarbeitung ist die Kühlkette ununterbrochen einzuhalten und dies auch nachzuweisen. Ansonsten sind die Lebensmittel nicht mehr verkehrsfähig und müssen entsorgt werden. Selbst wenn also ein Kühlraum vor einem geplanten Unterbruch etwas stärker gekühlt würde, damit er sich nie über 5 Grad erwärmt, könnte die Einhaltung der Kühlkette am Ende nicht nachgewiesen werden, da auch die automatischen Temperatur-Kontrollsysteme nicht mehr funktionieren würden. Zudem ist ein solches Vorgehen unter dem Strich energieintensiver als das stabile Halten der vorgeschriebenen Mindest-Kühltemperatur.

Beispiel 2: Tierische Produktion – Rohstoffverarbeitung geht nicht aufzuschieben

Jeden Tag werden in der Schweiz rund 10 Millionen Kilogramm Milch größtenteils maschinell gemolken. Den Kühen kann man nicht verordnen, an einem Tag keine oder auch nur erheblich weniger Milch zu geben. Die Milchmenge kommt also als rasch verderbliches Frischprodukt laufend, Tag für Tag als Rohstoff zu den Verarbeitern. Um diesen Rohstoff verarbeiten zu können, muss die Milch dauernd gekühlt und anschließend rasch über weitere Produktionsschritte haltbar gemacht werden (zum Beispiel pasteurisiert oder zu Milchpulver / Butter weiterverarbeitet). Andernfalls kann den Bauern nicht alle Milch abgenommen werden und es fallen nicht nur Unmengen an Food Waste an, sondern auch die Konsumenten wären durch das Fehlen von Milchprodukten direkt betroffen.

Bei Fleisch ist die Einhaltung der Kühlkette auch in Bezug auf die Gewährleistung der Lebensmittelsicherheit noch kritischer als bei der Milch. Bei einer zeitweiligen Unterbrechung der Versorgung, zum Beispiel von Schlachthöfen, könnten Transport- und Standzeiten von Tieren nicht mehr gemäß den gesetzlichen Vorgaben zum Tierschutz eingehalten werden. Je nach Dauer und Umfang allfälliger Unterbrüche von Schlachtketten könnten sodann nicht mehr sämtliche Schlachttiere geschlachtet werden (was einen «Tierstau» verursacht) oder/und müssten «entsorgt» werden, was sowohl aus Gründen des Tierschutzes (siehe «Tierethik»), der Nachhaltigkeit (siehe «Food Waste») und der Logistik (siehe tierartspezifisch teils sehr eng getaktete Produktionssysteme) in jedem Fall vermieden werden muss.

Beispiel 3: Lange Ein- und Ausfahrzeiten sowie generelle Risiken bei Totalabschaltungen

Bei komplexeren Anlagen führen Energieunterbrüche zu erheblichen technischen Problemen. Wichtige Produktionsanlagen sowie IT-Systeme müssen rund um die Uhr in Betrieb sein. So laufen zum Beispiel eine Kaffee-Extraktionsanlage, eine große Brotgetreidemühle, ein Milchpulverturm, eine Schokoladen-Conche oder eine Ölraffinerie in der Regel Tag und Nacht über mehrere Tage oder gar Wochen hinweg ununterbrochen und können nicht einfach aus- und wieder eingeschaltet werden. Um solche komplexen Anlagen nach einer Abschaltung wieder in Betrieb zu nehmen, müssen sie geleert, gründlich gereinigt und nacheinander kontrolliert wieder hochgefahren werden, was mehrere Stunden dauert, unproduktiv zusätzliche Energie verschwendet und erhebliche Lebensmittelabfälle verursacht.

Dazu kommt im Hygienebereich, dass bereits ein sehr kurzer Unterbruch die Anlagen unsteril werden lässt und durch die Sterilisierung der Anlagen zusätzliche Aus- und Einfahraufwände anfallen. Dies ist zum Beispiel im Getränkebereich bei Aseptik und Ultraclean-Abfülllinien der Fall. Und schließlich droht bei jedem Neustart, dass einzelne Komponenten nicht mehr hochgefahren werden können und ausgewechselt werden müssen. Die Anlagen sind heute für einen unterbruchsfreien Betrieb ausgelegt, und bei komplexeren Anlagen zeigt sich eine hohe Fehleranfälligkeit bei komplettem Herunterfahren des Systems.

Die Steuerungen für Produktionsanlagen verfügen oft nur über Speicherkapazitäten für einen kurzen Stromunterbruch. In diesen Fällen zieht ein kompletter Neustart auch Neuvalidierungen von Prozessen nach sich. Es ist deshalb wichtig, in jedem Fall eine gewisse Strom-Grundleistung zu gewährleisten, um die Einstellung der Grundinstallationen (wie zum Beispiel Steuerungen) sicherzustellen.

Beispiel 4: Lange dauernde Produktionsprozesse, die nicht unterbrochen werden können

Einige Herstellprozesse dauern lange und können nicht unterbrochen werden. Der Durchlaufprozess zum Beispiel bei der Herstellung von Teigwaren dauert (ohne Ein- und Ausfahren der Anlage) zwischen sechs und acht Stunden. Würde der Strom bei einer Pastafabrik also im Rhythmus 8h/4h rationiert, könnten einige Fabriken gar nicht mehr produzieren, da die verbleibende Zeitspanne nicht ausreicht, um die Anlage hochzufahren, zu produzieren und sie wieder herunterzufahren.

Beispiel 5: Abhängige Produktionsprozesse

In der Nahrungsmittelproduktion sind viele Produktionsschritte über verschiedene Stufen miteinander verknüpft und direkt voneinander abhängig. Auch hier wird meist just in time produziert (Haltbarkeit der Produkte). Die Bauern erzeugen kontinuierlich die Rohstoffe, welche die 1. Verarbeitungsstufe entweder zu Fertigprodukten verarbeitet (zum Beispiel Konsummilch, Butter, Frischfleisch und so weiter) oder zu Halbfabrikaten (Milchpulver, Mehl, Hefe, Fleisch, Zucker et cetera), welche die 2. Verarbeitungsstufe weiter veredelt (unter anderem zu Schokolade, Biscuits, Wurst, Brot, Teigwaren, Fertiggerichten). Die Produktionsprozesse sind aufeinander abgestimmt und stehen in gegenseitiger Abhängigkeit. Stockt eines der Glieder dieser Wertschöpfungskette, kann es zusätzlich zu einem noch viel größeren Schaden auf den nachgelagerten Stufen der Wertschöpfungskette kommen.

Diese fünf Beispiele sollen illustrieren, worin die spezielle Situation unserer Branche begründet ist. Unsere Mitglieder arbeiten mit frischen Rohstoffen, die (teils durchgehend gekühlt) rasch und stetig zu verarbeiten sind. Sie arbeiten auf Anlagen, die oft für den unterbruchsfreien Betrieb gebaut wurden und bei denen eine auch nur kurze Unterbrechung der Energiezufuhr zu erheblichen, zeit-, material- und energieintensiven Prozessen des Reinigens und Wieder-Hochfahrens der Anlagen führt. Eine Teilabschaltung der Elektrizität, wie aktuell angedacht, würde bei einzelnen Fabriken schlicht zu einem kompletten Stillstand führen, da die 8h-Intervalle nicht ausreichen, um die Anlage zu reinigen, den Betrieb hochzufahren, zu produzieren und den Betrieb danach wieder kontrolliert herunterzufahren. Bei anderen Herstellern würde die Produktivität massiv herabgesetzt (deutlich stärker als die rechnerischen 1/3).

Aber auch eine bloße Kontingentierung führt nicht nur zu einer entsprechenden, linearen Reduktion des heutigen Outputs, sondern es käme automatisch auch zu einer Einschränkung des Sortiments. Aufgrund vereinzelter leerer Gestelle im Detailhandel könnte es schweizweit wieder zu Hamsterkäufen kommen. Im Nahrungsmittelbereich könnte dies die gesicherte Versorgung schwerwiegend gefährden.

Antrag: Ausnahme der Nahrungsmittelindustrie von Bewirtschaftungsmaßnahmen

Der Lebensmittelsektor ist für die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln von zentraler Bedeutung. Zudem wäre er, wie aufgezeigt, von Bewirtschaftungsmaßnahmen besonders stark betroffen. Wie wir in der Covid-19 Pandemie eindrücklich gesehen haben, können bereits kleinste, lokale Versorgungslücken mit Gütern des täglichen Gebrauchs eine deutliche Überreaktion und nicht erwünschte Hamsterkäufe auslösen. Dies gilt es zu verhindern. Versorgungsengpässe bei Nahrungsmitteln können in der aktuell angespannten Situation auch nicht einfach durch zusätzliche Importe gedeckt werden, da Importprodukte mit den benötigten Spezifikationen und Mengen im Bewirtschaftungsfall nicht einfach kurzfristig verfügbar sind und die entsprechenden Lebensmittel dann andernorts fehlen.

Unsere Mitgliedunternehmen werden alles daransetzen, ihren Beitrag zur Reduktion des Strom- und Gasverbrauchs zu leisten und ihr Energiesparpotenzial im Fall einer Strommangellage auszuschöpfen. Sie haben ein ureigenes Interesse daran, dass es gar nie zu Bewirtschaftungsmaßnahmen kommen muss. Sollten solche aber unvermeidbar sein, sollte der Lebensmittelsektor als besonders stark betroffener und als besonders versorgungsrelevanter Sektor so weit wie möglich von ihnen ausgenommen werden. Auch die Europäische Kommission hat dem Lebensmittelsektor einen Sonderstatus (Societal Criticality) bei der Gasversorgung eingeräumt.

Eventualanträge im Fall von absolut nicht vermeidbaren Bewirtschaftungsmaßnahmen

Sollte die Lebensmittelindustrie nicht von Bewirtschaftungsmaßnahmen ausgenommen werden können, bitten wir Sie, in der Umsetzung folgende Besonderheiten zu berücksichtigen:

  • Aus Sicht der Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln sollte im Fall einer Rationierung der Elektrizität unbedingt ein Modell mit längeren Einschalt- und Abschaltzeiten gewählt werden. Für den Großteil unserer Betriebe müsste mindestens ein Modell mit zum Beispiel 24h einschalten, 12h/24h ausschalten vorgesehen werden. Für einzelne Bereiche, wie zum Beispiel für die Herstellung von Speiseölen und -fetten (die unter Vakuum stehen und mit großer Hitze arbeiten) müssten sogar noch längere Intervalle von 5d Betrieb, 1-2d Abschaltung vorgesehen werden, ansonsten die ganze Produktion stillstehen würde. Die Intervalle 8h/4h oder sogar 4h/4h sind für unsere Mitgliedfirmen jedenfalls nicht umsetzbar. Um Infrastrukturschäden an Anlagen sowie Programmverluste zu vermeiden, ist wenn immer möglich eine lückenlose Grundversorgung von ungefähr 10 % des normal benötigten Strombedarfs sicherzustellen.
  • Bei einer Kontingentierung von Strom und/oder Gas auch für die Nahrungsmittelindustrie ist es für die großen Unternehmen wichtig, die Flexibilität zu haben, selbst zu entscheiden, wie sie potenzielle Energiebeschränkungen auf ihre eigenen Standorte aufteilen, anstatt ihnen standortspezifische Beschränkungen aufzuerlegen (Multi-Site Thematik). Dies muss unabhängig vom jeweiligen Stromanbieter am Standort national koordiniert möglich sein.
  • Wohl eine Selbstverständlichkeit, für die Unternehmen aber wichtig, ist, dass bei einem «verordneten» Brennstoffwechsel zu Heizöl (Zweistoffkunden) die Zielvereinbarungen in Bezug auf die CO2-Absenkung (EnAW) nicht als verletzt gelten und der Wechsel somit unter diesem Gesichtspunkt keine negativen Konsequenzen für die Unternehmen hat (Ende der Abschrift) (Foto: pixabay.com).
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