Donnerstag, 8. Juni 2023

Heimat: Ist das jetzt die Zukunft?

Bremerhaven. (usp) Was die geliebten Streuselschnecken und Plunderteilchen angeht, ist Ihr WebBaecker in Bremerhaven-Mitte noch immer nicht richtig fündig geworden. In der Nachbarschaft gibt es zwar eine Rosinenschnecke, die klassisch ohne neumodischen Schnickschnack den Ansprüchen genügt. Doch auf Dauer ist das langweilig. In Bremerhaven-Mitte gibt es deshalb nicht wenige Kuchenliebhaber, die ob des dünnen Angebots abwinken und ins Umland ausweichen. Andererseits ist der regionale Handwerksbäcker, der fast jeden besseren Filialstandort in der Innenstadt besetzt hält, der einzig verbliebene, der sich kaufmännisch durchsetzen konnte. Das ist anzuerkennen. Neben der Rosinenschnecke schätzen die Bremerhavener seinen Butterkuchen und bescheinigen ihm, grundsätzlich ein guter Brotbäcker zu sein. Seine Brötchen sind dagegen eher geschmacksneutral, sehen von außen aber gut aus.

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Reise durch das Handwerk

Wer das Bäckerhandwerk am Linken Niederrhein mit seinen vielen Facetten gelernt hat, fühlt sich unter diesen Umständen natürlich wie in der Wüste. Wohl wissend, dass es auch in den verbliebenen Backstuben zwischen Kleve und Düsseldorf längst nicht mehr so duftet, wie es einst das Geschmacksgedächtnis prägte. Nach der Lehrzeit kamen die Studienjahre in Berlin inklusive parallel absolvierter Gesellenzeit. Wer mit Pottweck und doppelt gebackenem Kasselerbrot aufwuchs, den lässt ein Berliner Landbrot eher kalt. Das Splitterbrötchen hingegen, über das kaum jemand spricht und das dem Hamburger Franzbrötchen in so vielen Belangen überlegen ist, sollten die Berliner Bäcker mit mehr Selbstbewusstsein aufs Schild heben. Die Wendezeit hat das Bäckerhandwerk in Berlin nicht nur kräftig ausgedünnt, sondern auch in Erinnerung gerufen, dass Kuchen nicht nur süß schmecken muss. Sondern dass ein Apfelkuchen durchaus nach Apfel und ein Kirschkuchen nach Kirschen schmecken darf. In diesem Sinn waren nicht alle Betriebe dem Wettbewerb gewachsen und leistete das Ostberliner und Brandenburger Bäckerhandwerk zur Wendezeit mit seinen himmlischen Blechkuchen für Westberlin unschätzbare Entwicklungshilfe.

Reise durch Länder und Regionen

Nach Diplom und Meisterbrief hat sich der WebBaecker einmal quer durch Deutschland gebacken, um dann für ein Jahr die Spezialitäten der Zentralschweiz kennenzulernen. Neben den hohen Bergen, dem Vierwaldstättersee und dem gigantischen Blick über den See bis in die damals noch vorhandenen Gletscher blieb vor allem das gute Ruchbrot in Erinnerung – Gipfeli und Basler Brunsli natürlich auch.

Um ein paar Erfahrungen reicher bestimmte dann ein großer Mühlenkonzern den beruflichen Werdegang. Arbeitsplatz war erst Ostberlin, dann Berlin und Umland, dann Ostdeutschland von vorne bis hinten und rauf und runter inklusive Schreibtisch auf dem Beifahrersitz. Von hier aus gab es nicht nur viele regionale Spezialitäten zu entdecken, sondern auch Kolleginnen und Kollegen hinüber in eine neue Zeit zu retten.

Nach vielfältigen und einzigartigen Erfahrungen überwog irgendwann die Routine. Es war an der Zeit, sich zu lösen und einen Kindheitstraum zu erfüllen: auf einem großen weißen Schiff um die Welt fahren und ferne Länder kennenlernen. Schließlich ist die Sprache des Handwerks universell und Bäckern steht die Welt weit offen. Es tut gut, nicht nur ferne Länder zu entdecken, sondern auch Abstand zu gewinnen zur Heimat. Einen unverstellten Blick zu finden. Und natürlich regionale Backwarenspezialitäten kennen und beherrschen zu lernen. Der Kontrakt führte an Bord des Stolzes der japanischen Schifffahrtsflotte. Von Hongkong über Schanghai ging es zunächst nach Tokio. Von dort aus kreuzte das Schiff meist durch japanische Gewässer. Es bot Gelegenheit, Japan von Hokkaido bis Okinawa kennenzulernen. Zeit für einen Landgang gab es immer, so dass es möglich war, touristische Attraktionen und regionale Eigenheiten kennenzulernen. Manchmal ging die Reise auch nach Taiwan oder Südkorea mit seinen knallbunten Torten. Einmal legte das Schiff im Hafen von Wladiwostok an. Beeindruckend auch die additive Backkultur Japans, die Einflüsse geschickt verbindet und längst zu einem eigenständigen Profil entwickelt hat.

Reise durch Fach- und Sachgebiete

Nach so vielseitigem Input war ein geeigneter Output die logische Konsequenz. So kam die Bäckerin zu einem Redaktionsvolontariat und bald darauf wieder nach Norddeutschland. Hier führte der Weg schnell von der angestellten Redakteurin zum selbständigen Medienbüro und dem Aufbau des WebBaecker Infodiensts – gemeinsam mit seiner Herausgeber-Gemeinschaft bis 2018. Die anfänglichen Erwartungen in den Dienst sind nach insgesamt mehr als 22 Jahren weit übertroffen. Von Output allein kann heute keine Rede mehr sein, denn der Infodienst ist ein zuverlässiger Begleiter der Branche geworden – auch oder gerade in schwieriger Zeit. Manchmal ein bisschen gegen den Strich gebürstet und immer bereit, auch über den Tellerrand zu blicken. Woche für Woche den Nutzwert herausarbeitend, gehörten leckere Kuchen und Teilchen immer mit dazu. Das reichhaltige Angebot in Hamburg war selbstverständlich. Der Umzug nach Bremerhaven brachte dagegen nicht nur einen schönen und quirligen Wohnsitz direkt zwischen Weser und Geeste, sondern auch die Erkenntnis, dass nichts (!) im Leben selbstverständlich ist. Schon gar nicht ein vielseitiges Sortiment zu einer Zeit, in der jeder Betriebsberater alles zusammenstreicht.

Ist das die Zukunft?

Allein schon an ein normales Brötchen, einfaches Wassergebäck zu gelangen, das annähernd »wie früher« schmeckt, stellt sich als große Herausforderung dar. Wobei es egal ist, ob das Brötchen 15 oder 50 Cent kostet. Es soll nur schmecken. Resultat ist zum Beispiel, dass der WebBaecker erstaunlich lange das Brötchen eines Discounters geschmacklich als Heimat identifizierte. Doch dann änderte der Discount oder seine Großbäckerei die Rezeptur. Die Brötchen waren plötzlich sehr feinporig, wie reine Wassergebäcke es nicht sein können – alle Gesetzmäßigkeiten sprechen dagegen. Zudem sind die Brötchen jetzt neutral im Geschmack und hochempfindlich in der Tiefkühlung. Also kaum mehr genießbar. Fazit: Auch Hersteller, die den Lebensmitteldiscount beliefern, sollten im Blick behalten, dass die Erzeugnisse – bei allen nötigen Einsparungen – nicht irgendwann den Eindruck erwecken, sie seien zu kurz gekommene Ersatzprodukte.

Blechkuchen sind ebenfalls ein heikles Thema. Jedenfalls wundert es den WebBaecker nicht mehr, weshalb an der westlichen Nordseeküste fast in jedem Haushalt ein großer Tiefkühlschrank steht. Der Tiefkühldiscount füllt hier bereitwillig und gerne die Lücken, die ihm Bäckereien und andere Gewerke überlassen. Natürlich gibt es auch im TK-Discount zu kurz gekommene Ersatzprodukte. Doch meist finden sich hochwertige No-Name-Produkte in den Regalen, die in erfreulicher Vielfalt eindeutig zu den üblichen Markenherstellern zurückverfolgt werden können – nach klassischer Rezeptur gebacken.

Ordentliches Plundergebäck oder das, was der WebBaecker dafür hält, stellt dagegen nach wie vor ein Beschaffungsproblem dar. Möglicherweise ist eine Mini-Touriermaschine Teil der Lösung.

Einmal ausatmen, bitte.


Epilog

Die Welt da draußen öffnete sich zum ersten Mal an einem Sommertag. Die Gartentür war nur angelehnt. Blumen blühten, Schmetterlinge tanzten und Bienen summten. Als wollten sie gut zureden beim ersten eigenständigen Schritt in die Welt. Gewiss, die war damals noch sehr klein. Doch sie reichte immerhin ein paar Meter die Straße hinauf bis zum nächsten Bäcker auf der anderen Seite. Der Duft, den der Laden verströmte, hatte sich früh eingeprägt. Ziel waren, wie konnte es anders ein, die Treppenstufen, die hinauf führten in diesen Zauberladen. Sieben Pfennige kostete das Schnittbrötchen, das damals noch mit dem Schlagschieber geschoben auf der Herdplatte gebacken wurde. Voll freudiger Erwartung wechselte der Betrag den Besitzer, bevor sich ein freundlicher Weißkittel vornüberbeugte und das Brötchen überreichte. So schmeckt Heimat und so prägte sie sich ein – ohne Firlefanz auf das Wesentliche reduziert.

So einfach lassen sich Verbindungen heute natürlich nicht mehr knüpfen. Die Welt ist vielseitig geworden und die Einflüsse sind kaum mehr zu überblicken. Das muss sich vor Augen führen, wer an die Wahrnehmung anderer appelliert und mit Heimatbegriffen hantiert, die so vielschichtig sind wie die Welt. Akzente zu setzen, mit denen sich potenzielle Kunden identifizieren können und glücklich sind, ist eine Kunst. Nicht jeder Nahversorger versteht diese Kunst (Foto: congerdesign).

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