Minden / Westfalen. (anm) Wie kann Sauerteig die gesundheitlichen Aspekte von Brot- und Backwaren positiv beeinflussen? Diese Frage bildete einen Themenschwerpunkt auf dem sechsten Forum Sauerteig. Dazu hatte die Gesellschaft Deutscher Lebensmitteltechnologen (GDL) in Zusammenarbeit mit der Vereinigung der Backbranche (VDB) und der Arbeitsgemeinschaft Getreideforschung (AGF) nach Minden geladen. Dort hörten die mehr als hundert angemeldeten Teilnehmer aus Handwerk, Industrie und Wissenschaft, zu denen sich noch etliche Gäste gesellt hatten, gleich eine ganze Reihe Vorträge, die sich auf die eine oder andere Weise um diesen Themenkomplex bewegten.
Gluten – ATIs – FODMAPS
Einen von ihnen hielt Dr. Karoline Schreiber. Die Biologin ist Laborleiterin der Ernst Böcker GmbH + Co. KG aus Minden. Sie stellte fest, dass immer mehr Menschen die Diagnose Reizdarmsyndrom erhalten. Dabei lässt sich die Ursache meist nicht eindeutig klären. Bei vielen Patienten können weder eine Zöliakie noch eine Weizenallergie nachgewiesen werden. Doch geht es diesen Patienten besser, wenn sie bei ihrer Ernährung auf Gluten verzichten oder die Aufnahme zumindest beschränken.
Schreiber erklärte, dass die Verwendung von Sauerteig in Backwaren die Verträglichkeit für den Verbraucher verbessern kann. Sauerteigbrote sind zwar nicht frei von Gluten oder potenziell gesundheitsschädlichen Verbindungen wie ATIs oder FODMAPs, doch werden die Eiweiße und Zucker auf Grund des langen Fermentationsprozesses vorverdaut. Hierdurch erhöht sich die Verträglichkeit der Backware und ihr glykämischer Index wird gesenkt. Zudem baut sich während der Fermentation Phytinsäure ab, welche die im Getreide enthaltenen Mineralstoffe bindet. Durch ihren Abbau erhöht sich die Bioverfügbarkeit der Mineralstoffe und der menschliche Körper kann diese einfacher aufnehmen. Zudem werden andere Stoffe wie Milchsäure, Gamma-Aminobuttersäure, phenolische Verbindungen, Exopolysaccharide und viele mehr gebildet, die alle einen positiven Einfluss auf den menschlichen Organismus haben können.
PD Dr. Walburga Dieterich, die an der Medizinischen Klinik 1 des Universitätsklinikums Erlangen zu Zöliakie forscht, erläuterte in ihrem Vortrag die Unterschiede zwischen den drei einzelnen Krankheitsbildern der Glutenunverträglichkeit: Zöliakie, Weizenallergie und Glutensensitivität. Letzte ist besonders schwer zu diagnostizieren, weil bisher noch keine spezifischen Marker bekannt sind. Wie vor ihr schon Karoline Schreiber führte Dieterich aus, dass für Glutensensitivität neben den Glutenen auch andere Weizenbestandteile wie ATIs oder FODMAPs als Auslöser diskutiert werden. Sie betonte aber auch, dass für den Großteil der Bevölkerung Weizen ein wichtiges Nahrungsmittel ist. Er ist reich an Ballaststoffen, Vitaminen und Mineralien und stellt somit einen wichtigen Beitrag für eine gesunde Ernährung dar.
FODMAPs reduzieren
Dr. Jürgen Hollmann vom Institut für Sicherheit und Qualität bei Getreide des Max-Rubner-Instituts Detmold ging in seinem Vortrag der Frage nach, welchen Einfluss die Führungsweise von Teigen auf den FODMAP-Gehalt von Roggen- und Weizenbackwaren hat. Bei den Analysen zeigte sich, dass bei der Herstellung von Weizenbroten unter Verwendung von Mehltype 550 eine Verlängerung der Teiggare oder der Zusatz von Sauerteig die FODMAP-Gehalte um 30 bis 50 Prozent senken. Ersetzt man das Typenmehl durch Vollkornmehl, so liegen die Abnahmen noch bei 15 bis 20 Prozent. Bei Roggenbackwaren können die FODMAP-Gehalte auch bei Variation der Gare bei Sauerteigzusatz nur noch um 4 bis 8 Prozent reduziert werden.
Vera Fraberger von der Universität für Bodenkultur Wien (BOKU) stellte als Nachwuchswissenschaftlerin ihre Studie über das Potenzial von Hefen zur Reduktion von FODMAPs vor. Ihre Ergebnisse waren, dass bestimmte Hefen, unter anderem Torulaspora delbrueckii-Stämme, vor allem Raffinose und Fruktane sehr effektiv abbauen.
Zucker reduzieren
Angesichts von Volkskrankheiten wie Typ-2-Diabetes, Übergewicht oder Herzkreislauf-Erkrankungen ist das Thema Reduktion von Zucker in Lebensmitteln relevant. Dazu stellte Aylin Sahin, Nachwuchswissenschaftlerin vom University College Cork aus Irland, ihre Ergebnisse zur Mannitolproduktion mit Leuconostoc citreum TR116 zur Zuckerreduktion in unterschiedlichen Backwaren vor. Mannitolreicher Sauerteig wurde als funktionelle Zutat zu zuckerreduzierten Backwaren zugegeben und der Effekt auf die Teigqualität sowie die Produkteigenschaften untersucht. Als Produktbeispiele dienten 50 Prozent-zuckerreduzierter Kuchen und 75 Prozent-zuckerreduzierte Kekse. Dabei konnte gezeigt werden, dass Sauerteig das spezifische Volumen von Kuchen erhöhte und die Krumenstruktur verbesserte. Zudem beobachtete das Forscherteam eine Verlängerung der Haltbarkeit (plus drei bis vier Tage). Geschulte Sensorikprüfer nahmen zudem die Kuchen mit Sauerteig als süßer war. In Keksen unterstützte der Sauerteig die Ausbreitung und Bruchfestigkeit. Außerdem wurde eine intensivere Bräunung erzielt und die sensorischen Eigenschaften hinsichtlich Aroma und Süße wurden verbessert.
Schaumextrusion glutenfreier Teige
Dr. Volker Lammers vom Deutschen Institut für Lebensmitteltechnik Quakenbrück stellte einen prozessorientierten Ansatz vor, mit dem die Glutenfunktionalität kompensiert werden soll. Dazu hat sein Institut eine neuartige Aufschäumtechnologie entwickelt, die Volumen, Textur und Krumenmorphologie glutenfreier Backwaren deutlich verbessert.
Acrylamid-Management
Acrylamid gehört zu den foodborne toxicants. Deshalb sieht die EU-Verordnung EU2017/2158 die regelmäßige Kontrolle des Acrylamidgehalts von Lebensmitteln vor. Dr. Koen Dekker und Dr. Benjamin Schurr von der Dr. Otto Suwelack Nachf. GembH + Co. KG, Billerbeck, stellten das Acrylamid-Management bei getrockneten Sauerteigen in ihrem Unternehmen vor. Dr. Suwelack hat sich auf die Fermentation, Trocknung und Extraktion von Lebensmitteln spezialisiert.
In Anbetracht der vergleichbar moderaten Produkttemperaturen (unter 120° Celsius), die während der schonenden Trocknung des Sauerteiges nur für relativ kurze Zeit auf das Produkt einwirken, fanden sie es überraschend, dass durchaus relevante Spuren von Acrylamid gefunden werden konnten. Möglichkeiten sind, den Acrylamidgehalt etwa durch die Rohstoffzusammensetzung und die Fermentations- und Trocknungsparameter zu beeinflussen. Auch wurde der Versuch unternommen, Asparaginase im naturgemäß sauren Umfeld als Option zur Acrylamidreduzierung zu nutzen. Es bleibt allerdings ein Spagat, den Forderungen der Öffentlichkeit nach einer Reduzierung von Acrylamid und den Anforderungen an industrielle Hersteller an gleichbleibende Produktqualität und -vielfalt gerecht zu werden.
Mikrobiologie der Sauerteige
Die Zuhörer ein weiteres Mal tief in die Welt der Mikrobiologie führten Prof. Dr. Michael Gänzle von der University of Alberta, Edmonton, Kanada sowie Prof. Dr. Rudi Vogel von der Technischen Universität München, Weihenstephan. Gänzle sprach über Milchsäurebakterien in Sauerteigen. Teiglockerung mit Sauerteig erfordert häufiges Anfrischen, um eine ausreichende Stoffwechselaktivität und Gasbildung zu erreichen. Dies wird zum Beispiel durch eine Dreistufenführung erreicht (Typ I Teige). Sauerteige, die der Teigsäuerung dienen, werden mit längeren Abstehzeiten und häufig auch bei höheren Temperaturen geführt (Typ II Teige). Diese unterschiedlichen Teigführungen selektieren unterschiedliche Fermentationsorganismen. In Typ I Teigen ist Lactobacillus sanfranciscensis der dominierende Fermentationsorganismus. In Typ II Teigen dominieren Organismen der Lactobacillus reuteri Gruppe. Diese unterschiedliche ökologische Anpassung spiegelt sich auch in den unterschiedlichen Stoffwechselleistungen wider, mit denen die Fermentationsorgansimen zur Brotqualität beitragen.
Den Lebensstil von Lactobacillus (L.) sanfranciscensis nahm Prof. Dr. Rudi Vogel unter die Lupe. Ihre Stämme wurden bisher ausschließlich aus traditionellen Roggen- und Weizen-Sauerteigen isoliert. Allerdings muss angenommen werden, dass diese Spezies sich an ihr spezielles Habitat im Sauerteig gut angepasst hat, ihre Biodiversität aber viel größer ist und ihre originären Habitate vielfältiger sind. Stämme von L. sanfranciscensis wurden deshalb mit Stämmen von L. linderi verglichen, einer am nächsten verwandten Spezies. Ihr Habitat ist Bier, in dessen Milieu L. sanfranciscensis sich nicht behaupten kann. Vogel und sein Team fanden genomische und physiologische Merkmale, an denen sich die sonst sehr ähnlichen Stämme unterscheiden. Jedoch konnten sie diese bisher nicht ursächlich oder im Einzelnen einer spezifischen Anpassung an Sauerteig oder Bier zuordnen. Klar ist, dass alle Stämme in einer metabolischen Abhängigkeit voneinander existieren. Sie geben Stoffe ab, die andere aufnehmen und ihrerseits in Stoffe umwandeln, die andere wiederum aufnehmen.
Nachwuchswissenschaftlerin Esther Rogalski von der Technischen Universität München, Freising, stellte ein neues methodisches Werkzeug vor, mit dem Lactobacillus sanfranciscensis Stämme in Weizen- und Roggensauerteigen differenziert werden können. Es ist das CRISPR-tracking, das ursprünglich entwickelt wurde, um Lactobacillus buchneri zu differenzieren.
PD Dr. Clarissa Schwab von der Eidgenössichen Technischen Hochschule ETH Zürich, Schweiz, zeigte anhand von Beispielen, welche generellen gemeinsamen bakteriellen Aktivitäten es im Darm und im Sauerteig gibt, wo dabei Unterschiede vorhanden sind, und wie die gleiche bakterielle Aktivität unterschiedliche Wirkungen in Abhängigkeit vom Lebensraum haben kann.
Spontansauerteig
Spontane Gärung für triebaktive Sauerteige müssen vorhersehbare Ergebnisse erzielen, damit sie in professionellen Bäckereien genutzt werden können. Mit diesem Thema beschäftigte sich der Vortrag von Thomas Lepold, Diplomingenieur für Bäckereitechnologie, von der Firma BackNatur in Oberursel. Zunächst zeichnete er die Geschichte der spontanen Gärung auf, die tausende von Jahren zurückreicht. Erst mit dem Hefezusatz, der vor rund 150 Jahren in Mode kam, ging der Einsatz von triebaktiven Sauerteigen zurück. Lepold beobachtet, dass sich verstärkt in den letzten 15 Jahren Betriebe wieder auf den Weg machen, um diese Kunst zurückzuholen. Fünf Parameter müssen stimmen, um Sauerteige mit vergleichbaren geschmacklichen Eigenschaften und Triebaktivität generieren zu können: 1. Rohstoffe, die ein standardisiertes Nährstoffangebot für die Mikroorganismen bereitstellen, 2. eine gezielte, gesteuerte Fermentation von anfangs weniger Rohstoffen (noch ohne Mehl), 3. gleichbleibende Bedingungen (Temperatur, Zeit, Gefäße, Mengen, Personen), 4. Wassergüte, 5. ein geeignetes Führungsschema.
Sauerteig und Technologie
Auch von der technologischen Seite wurde der Sauerteig beleuchtet. Dr. Ute Bindrich vom Deutschen Institut für Lebensmitteltechnik, Quakenbrück, beleuchtete die stofflichen Ursachen für das Trockenbacken von Roggenbrot. Die Einflussparameter stehen in sehr komplexen Wechselwirkungen zueinander. Norbert Huintjes von der Arbeitsgemeinschaft Getreideforschung, Detmold, sprach über den Einfluss unterschiedlicher Sauerteigführungen auf die Frischhaltung von Roggenmischbroten und stellte fest, dass sich bei den Versuchsreihen kein eindeutiges Bild abzeichnete, welche Sauerteigführung sich in Bezug auf eine möglichst lange Frischhaltung besonders eignet. Peter Stolz von der Ernst Böcker GmbH + Ko. KG, Minden, ging auf die Langzeitführung von Sauerteigen ein. Er hält sie für eine Möglichkeit, Produktionsabläufe in Bäckereien flexibler zu gestalten und Nachtarbeit zu verringern. Er zeigte Fehlermöglichkeiten bei der Anwendung von Sauerteig in Langzeitführung auf.
In seinem zweiten Vortrag sprach Prof. Dr. Michael Gänzle über die Geschmacksverbesserung durch Sauerteig. Vor allem die Umsetzung von Getreideproteinen zu Glutamat trägt zum verbesserten Brotgeschmack bei. Der insgesamt intensivere und rundere Geschmackseindruck ermöglicht eine Reduzierung von Salz oder Zucker in der Rezeptur ohne dass Konsumenten die insgesamt positive Einschätzung des Geschmacks beeinträchtigt sehen.
Weiterverwertung von Müllereinebenprodukten
Bei der Herstellung von Rollgerste und Weizenmehl fallen Müllereinebenprodukte (MNP) wie Gerstenschleifmehl und Bollmehl an. Diese äußeren Schichten der Getreidekörner werden nicht für die Produktion von Lebensmitteln verwendet, sondern können bisher nur als Tierfutter weiterverarbeitet werden. Eine Studie, die Nachwuchswissenschaftlerin Denise Müller von der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Wädenswil, Schweiz, vorstellte, zeigte, dass mittels einer Fermentation mit einem gezielten Einsatz von Mikroorganismen die ernährungsphysiologischen Werte der MNP verbessert werden können. Aus fermentiertem Gerstenschleifmehl mit gezielter Kulturzugabe stellten die Wissenschaftler erfolgreich Frühstückscerealien her, die ein angenehmes Aroma aufwiesen. So könnten Getreidemühlen in Zukunft nachhaltiger produzieren und auch ökonomisch profitieren.
Sauerteig in Volksglauben und Religionen
Für ein kleines Gegengewicht zu allen naturwissenschaftlichen Betrachtungen rund um den Sauerteig sorgte Prof. Dr. Herbert J. Buckenhüskes, LWB – Lebensmittelwissenschaftliche Beratungen, Hemmingen, und Geschäftsführer der Gesellschaft Deutscher Lebensmitteltechnologen Er stellte den Sauerteig im Volksglauben, in Religionen und Konfessionen vor. Dieser hat im Laufe der Jahrtausende sowohl negative Konnotationen (zum Beispiel Gärung als Verderbserscheinung), aber vielfach auch positive Konnotationen (zum Beispiel Metamorphose von Getreide als göttlichem Vorgang oder Einheit der Menschheit in ihrer Vielfältigkeit) erfahren. Das liegt an seinem dynamischen Charakter. Sauerteig kann in Abhängigkeit von den Ausgangsbedingungen positive oder auch negative Auswirkungen besitzen.
Das Rahmenprogramm setzte zusätzliche Akzente
Die Anwesenden lobten die gute Mischung der Vorträge, hatten Freude am Erlebnisbacken mit den WildBakers aus Gomaringen und genossen die kulinarischen Erlebnisse bei der Brotverkostung und dem gemeinsamen Abendessen. Zu beidem wurden sie von der Ernst Böcker GmbH + Co. KG, Minden, eingeladen. Die Veranstaltung fand statt in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Getreideforschung und der Vereinigung der Backbranche (Bild und Text: Anette Meyer).
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