Freitag, 19. April 2024

Fama: Deutsche Messewirtschaft steht vor großen Veränderungen

Wendelstein. (fama) Messen in Deutschland sind erfolgsverwöhnt. Doch das Erfolgsmodell steht vor einer tiefgreifenden Transformation – nicht erst seit Covid-19. Neue digitale Formate und Geschäftsmodelle sind gefragt. Nicht nur das: Auch bei der Geländeinfrastruktur besteht ein hoher Investitionsbedarf in den Bau von Einrichtungen, die multifunktional sind und auf Qualität statt auf überdimensionierte Quantität setzen. Der dafür benötigte Finanzrahmen ist beträchtlich und vielleicht nur durch die Einbindung privater Investoren zu bewerkstelligen. Außerdem: Deutsche Messeunternehmen verlieren zunehmend Marktanteile im weltweiten Messegeschäft – eine Entwicklung, die seit gut zehn Jahren zu beobachten ist und sich durch die Pandemie weiter verschärft.

Die Bestandsaufnahme, die Referent Jochen Witt zum Auftakt einer Fachtagung des Fama Fachverbands Messen und Ausstellungen vornahm, war keine leichte Kost für eine Branche, die erfolgsverwöhnt ist. Witt, einst CEO der Köln Messe und viele Jahre Chairman und Präsident des UFI Messe-Weltverbands, weiß, wovon er spricht. Sein Consulting-Büro berät seit 2008 Messeunternehmen rund um den Globus.

Deutsche Messeunternehmen verlieren Marktanteile

Erst vor wenigen Wochen hat das Kölner Beratungsunternehmen eine umfangreiche Marktanalyse im Ranking der weltweit 40 umsatzstärksten Messeunternehmen vorgelegt. Wer sie liest, der findet darin auch deutsche Unternehmen, allerdings nicht immer dort, wo sie dem Selbstverständnis nach erwartet werden – in der globalen Spitzengruppe. Dort rangieren heute finanzstarke Unternehmen und Messestandorte wie China ganz weit oben – ein Land, das inzwischen über das größte Messegelände der Welt verfügt und derzeit auch beim Re-Start das Tempo bestimmt.

Entsprechend rechnet Witt damit, dass China bereits 2022 wieder das Vor-Pandemie-Niveau im Veranstaltungsgeschäft erreicht haben wird und sich damit die äußerst dynamische Entwicklung im internationalen Vergleich fortsetzt: «Jede internationale Veranstaltung, die in Deutschland nicht stattfindet, birgt die Gefahr in sich, woanders Wachstum-beschleunigend zu wirken. Schon seit einigen Jahren beobachten wir den Trend, dass so genannte Nr. 1-Messen nicht mehr zwingend an Standorten in Deutschland und Europa stattfinden.» Vor diesem Hintergrund sei der Begriff der sogenannten «Weltleitmesse» in weiten Teilen obsolet, weil er einen Anspruch formuliert, der mehr über den eurozentrierten Absender aussagt als über die tatsächliche Präsenz der globalen Community.

Regionale Messen erleben eine Renaissance

Stark steigend ist dagegen die Zahl der regionalen Fach- und Publikumsmessen, die zunehmend eine Renaissance erleben – nicht erst seit der Pandemie, die zu einem restriktiven Reiseverhalten geführt hat. Grund dafür sei vielmehr eine Rückbesinnung auf die Region als regionale Lebenswelt und Identität-bildender Raum, wie Roger Spindler hervorhob. Er sprach von der «progressiven Provinz» als einer Dimension des gelebten Lebens, die im Zuge einer «Re-Urbanisierung» zur sinnerfüllten Einheit werde, in der sich Menschen angesichts der globalen Herausforderungen wiederfinden – nicht als Ort der Zuflucht, sondern als Gestaltungsspielraum. Beispielhaft dafür ist die Olma Messe St. Gallen, die von Direktorin Christine Bolt als generationsübergreifendes Erfolgsmodell vorgestellt wurde.

Kritik an geringer Halbwertzeit politischer Entscheidungen

Deutliche Worte gab es zu den aktuellen politischen Entscheidungen und Vorgaben, die ihre «Fahrt auf Sicht» seit über 18 Monaten fortsetze: «Wir stehen heute dort, wo wir vor einem Jahr standen – mit dem Rücken zur Wand und mit einer Perspektive vor Augen, die erneut keine Planungssicherheit über einen längeren Zeitraum eröffnet», bringt der geschäftsführende Fama-Vorstandsvorsitzende Henning Könicke die aktuelle Lage und das Stimmungsbild der Messewirtschaft auf den Punkt: «Schon jetzt zeichnet sich ab, dass durch das Inkrafttreten der neuen Regelungen, die für Messen im Freistaat Bayern und in Baden-Württemberg einen 2G plus-Nachweis vorsehen, die Durchführung von Veranstaltungen nahezu verunmöglicht wird.» Mit Unverständnis reagierte er darauf, dass für Messen mit Gangbreiten von bis zu sechs Metern ein 2G plus-Nachweis erforderlich sei, währenddessen für die täglich zehn Millionen Fahrgäste im öffentlichen Nahverkehr ein 3G-Standard mit vereinzelten Stichproben von der Politik als ausreichend angesehen werde.

Ausfall-Fonds von Bund und Ländern greifen zu kurz

Auf ein geteiltes Echo in Freiburg stieß der jüngst beschlossene Sonderfond «SOMA», der als «Sonderfond des Bundes für Messen und Ausstellungen» die Risiken für Veranstalter im Falle einer Absage reduzieren soll. Insgesamt 600 Millionen stellt das Bundeswirtschaftsministerium dafür zur Verfügung. Abgesichert werden damit bis zu 80 Prozent der Schäden, die aus einem möglichen Veranstaltungsverbot resultieren, etwa für Miet- und Pachtkosten, für Wareneinsätze und Dienstleister oder auch für Personal, Marketing und Kommunikation – allerdings nur bis zu einer Grenze von acht Millionen Euro pro Einzelfall.

«Das ist ein wichtiges Signal der Politik, auch wenn wir uns diese Initiative bereits im vergangenen Jahr gewünscht hätten, als Veranstaltungen teilweise wenige Tag vor Beginn behördlich verboten wurden und die betroffenen Unternehmen leer ausgingen», sagt Könicke.

Jedoch biete SOMA nur bedingt Planungssicherheit, da die Hilfsmittel ausschließlich im Fall eines behördlichen Veranstaltungsverbots abgerufen werden können – nicht aber bei Auflagen wie zum Beispiel einer 2G plus-Regelung, die de facto die Durchführung einer Messe verunmöglicht.

Auch die Risiko-Minimierung für die ausstellende Wirtschaft, die in Vorleistung geht und dafür verlässliche Regeln braucht, seien durch SOMA in keinster Weise abgefedert. Könicke: «Messen basieren auf Vertrauen. Wer heute nicht abschätzen kann, welche Regeln in vier Wochen gelten, der wird dieses Vertrauen nicht haben» (SymbolFoto: Koelnmesse).

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