Detmold. (agf) Volles Haus bei der Arbeitsgemeinschaft Getreideforschung (AGF). Auch dieses Jahr tauschten auf dem Detmolder Schützenberg etwa 200 Experten der Müllerei-Branche in Vorträgen, Workshops, Diskussionsrunden und «Kommunikationspausen» ihre Erfahrungen aus. Zudem stellten etwa zwei Dutzend Hersteller von Müllereitechnologie ihre Produkte in der Ausstellungshalle vor. Insgesamt bot die Tagung eine sehr große Fülle an Themen und Informationen.
Bauernweisheit: «Trockene Jahre sind gute Jahre» (!)
Den Auftakt für die Tagung gab das «Erntegespräch», mit sieben Vorträgen und einer Podiumsdiskussion vor der Mittagspause des ersten Tages. Hier wurden vor allem die Daten und Fakten der Getreideernte 2019, von der Zusammensetzung bis zum Schädlingsbefall, vorgetragen, die neuesten Zahlen zum Proteingehalt des Weizens erörtert und, wie schon bei anderen Tagungen der AGF, beklagt. Trockenheit und, aufgrund der neuen Düngeverordnung, weniger Stickstoff bringen weniger Eiweiß. Doch obwohl Dr. Lorenz Hartl in seinem Vortrag «die vierthöchsten Erträge seit Aufzeichnung» verkünden konnte, und es von «1972 bis 2010 stetige Ertragssteigerungen» gab, scheinen im Hintergrund schon die Alarmglocken des Niedergangs zu schrillen. Dabei, sagt Hartl, lautet ein bayerisches Sprichwort: «Trockene Jahre sind gute Jahre» – weil die Trockenheit weniger Krankheiten verursacht.
Die 70. Tagung für Müllerei-Technologie in Bildern
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Backstubenweisheit: «Teige weich, Bäcker reich»
Und im direkten Gespräch, mit verschiedenen Teilnehmern dieser Tagung, wird klar, was der unvoreingenommene Laie nur dunkel erahnt: nicht zuletzt auch die Fixierung auf den Eiweißgehalt des Weizens erzeugt den Druck auf die Landwirte, der angeblich von den unbarmherzigen und ahnungslosen Konsumenten ausgeht. Doch wenn am Markt Zehntelprozente Eiweißgehalt über die Abnahme oder Zurückweisung von Weizen entscheiden, wie plausibel ist es dann, dass daran allein der maßlose Kunde schuld sein soll? Angebot und Nachfrage, Henne oder Ei – ohne Lieferanten kein Konsument. In Wahrheit geht es zuerst einmal um «Ausbeute, immer mehr Ausbeute!», sagte Michael Haag, und Margen, Profitsteigerung, Preiskampf und eine damit einhergehende immer unmenschlichere Effizienz und «der Verlust von Ganzheitlichkeit». Das Handwerk folgt nicht mehr der Natur, sondern die «Natur» soll immer mehr dem Handwerk angepasst werden.
In zwei spannenden und leidenschaftlichen Vorträgen des zweiten Tages zu «Ausbildung und Personalentwicklung» von Michael Gutting («Müller der Zukunft») und Michael Haag («Problem Qualitätsmanagement – Sind die Unternehmer noch Herr im eigenen Haus?») trat das ganze Dilemma der Lebensmittelindustrie zu Tage: «Vor 100 Jahren war die Müllerei nur pure Versorgung. Satt werden war ganz vorne», sagte Michael Gutting. Ein Bäcker verstand sich auf seine wenigen Zutaten und produzierte ein «schmales Angebot» und war somit Lieferant des Notwendigen, statt des Erlesenen. Es reicht aber den Lebensmittelkonzernen, die auch die tolerierbaren Eiweißprozente des Weizens bestimmen, schon lange nicht mehr Bedürfnisse zu befriedigen. Stattdessen ist es die höchste Marketingtugend, Bedürfnisse zu wecken.
Bedürfnisse und Bedarfe unter dem Mantel der «Qualität»
Damit die Masse der Konsumenten die geweckten Bedürfnisse wiederum befriedigen kann, soll der Preis immer niedriger werden und die «Qualität» ständig steigen. In diesem Spannungsverhältnis wird «Qualität» zur Kulisse. Michael Haag gab zu bedenken: «Zahlen und Messdaten sind noch keine Qualität. Der Kunde versteht darunter etwas anderes. Qualität entsteht im Auge des Betrachters, im Kopf des Konsumenten. Aber darf dieser Konsument überhaupt noch mitmachen? Könnte ihm nicht jemand sagen, was er für eine Qualität braucht und am Ende auch für eine Qualität bekommt?» Ausgeburt dieser Kulisse sind die seltsamen Blüten, die das Qualitätsmanagement treibt, zum Beispiel dass «man beginnt, den Betrieb zu zerlegen», um mehr Kontrolle über die «Qualität» zu bekommen, aber zu guter Letzt nur noch «Dienst nach Vorschrift» produziert. Dokumentieren und abhaken. «Es bleibt spannend ob wir dieser ungesunden Ordnung irgendwann wieder entkommen können.» Denn «der gut ausgebildete Müller ist der bessere Qualitätsmanager.»
Mit Industrie-Löhnen gegen den Fachkräftemangel
Michael Gutting, geschäftsführender Gesellschafter der Bindewald + Gutting Verwaltungs-GmbH, hatte, in Bezug auf die Ausbildung, den Fachkräftemangel und die Rekrutierung für das Müllereihandwerk, eine überraschende, aber plausible, und selbst erprobte Lösung bereit: «Wir haben unsere Löhne verändert, auf das Niveau der chemischen Industrie und Sie glauben gar nicht wie schnell das auf Instagram rum war. Das war der beste Werber. Wenn Du auf Dauer nicht in der Lage bist, die Löhne der Industrie zu bezahlen, dann bist Du eh tot.»
Physikalische und biologische Schädlingsbekämpfung nimmt zu
Weiteres Schwerpunktthema der Tagung war der Vorratsschutz durch Maßnahmen, die keine Pestizide in Anspruch nehmen. Cornel Adler erörterte in seinem Vortrag «Schädlingsmanagement 4.0» die Schädlingsfrüherkennung durch «Bioakustik», oder den Schutz, den bereits eine bessere Abdichtung in vielen Lagerstätten bringen würde, und stellte fest: «physikalische und biologische Verfahren haben zugenommen». Ralph Hillebrecht und Peer Hansen referierten über die Schädlingsbekämpfung mit Ozon, also dreiwertigem Sauerstoff, der nicht nur Insekten tötet, sondern auch Mykotoxine an und im Getreide weitgehend beseitigt. Sehr viel schneller, aber nicht unbedingt weniger aufwändig, ist die Schädlingsbekämpfung mit CO2 unter hohem Druck, wie sie die Firma Carvex in der Ausstellungshalle vorstellte.
Dritter Themenblock der Tagung war die «Technologie», bei der, wenig überraschend, die Digitalisierung der beherrschende Baustein ist. Über die Prozessoptimierung mit intelligenten Verwiegesystemen referierte Andreas Kleiner von der Bühler AG aus Appenzell/Schweiz. Er erläuterte unter anderem, dass moderne Waagen mit Servo-Antrieben Energiekosten sparen, weil keinerlei Druckluft mehr benötigt wird.
Andreas Hummel von der Wingmen Group präsentierte humorvoll und überzeugend die Vorteile seiner «Factory Clean» Software. Die verspricht 100-prozentige Transparenz und lückenlose Dokumentation im Bereich der Lebensmittelsicherheit und Hygiene und die Möglichkeit, den «Dschungel von Bürokratie, Zertifizierungen und Regeln, sowie das ganze Lebensmittelsicherheits- und Hygieneprozedere in einem Programm zu managen und zu verwalten, sowie alle relevanten Daten und Reporte mit einem Klick zu generieren respektive abzurufen.» Und das alles, bei Bedarf, mit Smartphone und Tablet.
Insekten in der kommerziellen Erzeugung von Lebensmitteln
Insekten fanden schon des Öfteren ihren Weg in frühere AGF-Tagungen. Im vierten Themenblock, «Forschung und Entwicklung» lenkten sie das Augenmerk wieder auf das Eiweiß. Nun jedoch nicht als ein Bestandteil des Weizens, der die Backeigenschaften verbessert, sondern schlicht als vorrangige Eiweißquelle für Tier- und Menschennahrung. Die Kleie, und andere «Nebenströme» aus der Getreideproduktion, dienen dabei, ganzjährig und in großen Volumina bei konstanter Qualität verfügbar, als geeignete Futterquelle, vor allem für Mehlwürmer und die Schwarze Soldatenfliege. Dr. Benedict Purschke berichtet über die aktuelle Situation der Insektenproduktion, die in diesem Jahr, durch ein Joint Venture zwischen Protix und Bühler, mit der Errichtung der ersten «full scale» Insektenfarm in den Niederlanden, endgültig den Schritt vom Pilotprojekt in die kommerzielle Produktion machte.
Zu zahlreich waren die hoch-informativen Beiträge und Vorträge dieser Tagung, als dass es möglich wäre alle explizit zu erwähnen und im Detail zu besprechen ohne den gebührlichen Rahmen dieses Berichts zu sprengen. Wer sich als Fachperson der Branche gut vernetzen will, wird ohnehin nächstes Jahr (wieder) dabei sein. Für ein gediegenes Rahmenprogramm wird wie immer gesorgt.
Über die Arbeitsgemeinschaft Getreideforschung
In der Arbeitsgemeinschaft Getreideforschung (AGF) sind etwa 400 Unternehmen aus 15 Nationen Mitglied. Sie bilden die wirtschaftliche Grundlage für die Tätigkeit der AGF seit über 70 Jahren. Bei den Firmenmitgliedern sind die Sparten Müllerei, Bäckerei, Backmittel, Stärke, Teigwaren, Nährmittel, Maschinen, Getreide, Institute, Verbände und Verlage vertreten. Seit 1946 hat die AGF über 500 Tagungen organisiert, die von über 70.000 Teilnehmern besucht wurden.
Die AGF bietet über ihre Tochtergesellschaft, das Detmolder Institut für Getreide- und Fettanalytik (DIGeFa) GmbH, individuelle Beratung bei der Einführung von Qualitätsmanagement- Systemen an. Auch bei der Aufstellung von Konzepten für Lebensmittelhygiene, Rückverfolgbarkeit und den Internationalen Food Standard steht die DIGeFa beratend zur Verfügung. Weiterhin werden Labor-Vergleichsuntersuchungen angeboten, die den Teilnehmern aus der Praxis die Möglichkeit geben, ihre Laborergebnisse zu kontrollieren und abzustimmen. Zudem betreibt die AGF ein Netzwerk zur Überwachung von NIR-Ganzkorngeräten zur Proteinbestimmung (Fotos: AGF).
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