Dienstag, 16. April 2024

Deutsche Brotkultur: Wer redet von «Geschmackspolizei»?

Berlin / Hamburg. (zv / eb) Traditionen leben heißt nicht, im Stillstand zu verharren. Tradition heißt, das «Feuer» weiterzutragen und die «Asche» rechtzeitig zu entsorgen. Sonst ist das, was man schützen möchte, irgendwann nur noch Folklore. Das ist der Standpunkt, von dem aus der WebBaecker die Diskussion um die «Deutsche Brotkultur» schon immer begleitet hat und weiter begleiten wird. In dieser Woche hat uns eine Mitteilung des Zentralverbands des Deutschen Bäckerhandwerks (ZV) erreicht. Unter der Überschrift «Keine Geschmackspolizei für die Deutsche Brotkultur» geht der Verband auf eine Kampagne der Verbraucherorganisation Foodwatch ein. Wir haben uns kurz damit befasst. Erster Eindruck: Entweder reden Zentralverband und Foodwatch aneinander vorbei oder der Verband sieht in der Kampagne eine willkommene Möglichkeit, auf bekannte Positionen hinzuweisen. Das wiederum wollen wir «so» nicht stehenlassen und haben einen Kommentar in Stichpunkten drunter gesetzt.

Keine Geschmackspolizei für die Deutsche Brotkultur

Foodwatch-Untersuchung und E-Mail-Aktion ‘Irreführende Gesundheitswerbung stoppen’ der selbsternannten Essensretter täuschen Verbraucher und Parlamentarier

Berlin. (zv) Eine Scheibe Vollkornbrot belegt mit fettarmen und eiweißreichen Harzer Käse, dazu ein Glas frisch gepresster Orangensaft zum Frühstück – ein guter und gesunder Start in den Tag? Wenn es nach Foodwatch geht, könnte diese Mahlzeit keinesfalls als gesund bezeichnet werden. Die Kampagnenorganisation unterstellt Lebensmittelherstellern «massenhaften Gesundheitsschwindel» und bombardiert die Abgeordneten des EU-Parlaments mit E-Mails, in denen er ein Verbot für Gesundheitsaussagen bei sämtlichen Lebensmitteln fordert, die angeblich «zu süß, zu fett oder zu salzig» seien.

Nach gegenwärtigem Recht darf Vollkornbrot als Ballaststoffquelle, Harzer Käse als eiweißreich und frisch gepresster Orangensaft als reich an Vitamin C beworben werden. Das ist gesund. Folgt man den Plänen von Foodwatch, würde sich das ändern. Dann dürften nur noch Lebensmittel, die in die sogenannten «Nährwertprofile» der Weltgesundheitsorganisation (WHO) passen, als gesund gelten. Nach den Plänen der selbsternannten Verbraucherschützer wären also Vollkornbrot, Sauermilchkäse und frischer gepresster Orangensaft wegen ihres Salz- beziehungsweise Zuckergehalts ungesund. Damit wäre auch die von der Deutschen Unesco-Kommission als «immaterielles Kulturerbe» geschützte Deutsche Brotkultur unmittelbar gefährdet. Denn jahrhundertealte Rezepturen müssten dann wegen ihres vermeintlich zu hohen Salzgehalts geändert werden. «Wir brauchen keine Geschmackspolizei. Nährwertprofile sind eine Bevormundung der Verbraucher. Wer diese fordert, hält den Verbraucher für zu dumm, um selbst entscheiden zu können. Wir wollen die Brotvielfalt erhalten und kein politisch diktiertes Einheitsbrot», sagt Michael Wippler, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Bäckerhandwerks. Hauptgeschäftsführer Daniel Schneider ergänzt: «Foodwatch verdreht bewusst die Tatsachen, arbeitet unwissenschaftlich und täuscht damit Verbraucher wie Parlamentarier. Die Forderungen selbst sind zudem widersprüchlich: Nach den Nährwertprofilen könnte eine Orange als gesund bezeichnet werden, der hieraus frisch gepresste Saft aber nicht».

Nach der ursprünglich nur auf bestimmte Lebensmittel beschränkten Kampagne fordert Foodwatch mit der E-Mail-Aktion nun von den EU-Parlamentariern die Einteilung der gesamten Lebensmittelwelt in «gesund» und «ungesund» – und zwar nach eigenen Maßstäben. Tatsächlich gibt es auf EU-Ebene Pläne für Nährwertprofile, die Grundlage für gesundheitsbezogene Angaben sein sollen. Diese führen aber zur Schwarz-Weiß-Malerei und sind nicht nur deshalb wissenschaftlich heftig umstritten. Das EU-Parlament will daher nächste Woche für eine Überprüfung der Nährwertprofile votieren – was Foodwatch wahrheitswidrig als deren Abschaffung darstellt. Tatsächlich sollen nur die «wissenschaftliche Grundlage, Sinnhaftigkeit und Realitätsnähe» der Einführung von Nährwertprofilen überprüft werden, wie es auch der Ausschussbericht ausdrücklich vorsieht. Die Aufgabe dieser Pläne wäre nur eines von mehreren möglichen Ergebnissen.

Kommentar

Hamburg. (eb) Entweder reden Zentralverband und Foodwatch aneinander vorbei oder der Verband sieht in der Kampagne eine willkommene Möglichkeit, auf bekannte Positionen hinzuweisen. Das wiederum wollen wir «so» nicht stehenlassen und möchten die Diskussion wie folgt ergänzen.

  1. Die vom Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks (ZV) zitierte Studie (Kurzfassung / Langfassung) eignet sich kaum für die Behauptung, die Verbraucherorganisation Foodwatch würde «… eine Scheibe Vollkornbrot belegt mit fettarmen und eiweißreichen Harzer Käse, dazu ein Glas frisch gepresster Orangensaft zum Frühstück» am liebsten als «ungesund» deklarieren lassen.
  2. Man kann den «selbsternannten Essensrettern» von Foodwatch vorwerfen, dass sie durch das Verdrehen von Tatsachen mit den Ängsten der Verbraucher spielen. Im Eifer des Gefechts muss man allerdings aufpassen, nicht selbst – wenn auch unbeabsichtigt – unnötig Ängste zu schüren und «Stimmung» zu machen.
  3. Die vom Zentralverband befürchtete Gefährdung der von der Deutschen Unesco-Kommission als «immaterielles Kulturerbe» geschützten «Deutschen Brotkultur» geht weniger von den Foodwatch-Aktivitäten aus. Es ist die Vorstellung, dass sich bei der geschützten deutschen Brotkultur mit ihren zum Teil jahrhundertealten Rezepturen nichts ändern darf.
  4. Traditionen zu leben heißt nicht, im Stillstand zu verharren. Tradition heißt, das «Feuer» weiterzutragen und die «Asche» rechtzeitig zu entsorgen. Sonst ist das, was man schützen möchte, irgendwann nur noch Folklore.
  5. Statt die Furcht vor einem diffusen «Einheitsbrot» zu schüren, könnte der Verband offensiv an technologischen Verfahren mitarbeiten, die es erlauben, den Kochsalzgehalt in Brot und Brötchen zu senken – ohne Verlust von Vielfalt und Qualität. Eine ehrenvolle Aufgabe für die bekannten Institutionen des Bäckerhandwerks.
  6. Die Zusammenhänge zwischen Speisesalzzufuhr und Blutdruck sind eindeutig: Eine hohe Speisesalzzufuhr erhöht das Risiko für Bluthochdruck. Der gehört zu den wichtigsten Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Krankheiten. Die sind mit knapp 40 Prozent die häufigste Todesursache in Deutschland. In ihrer wissenschaftlichen Stellungnahme «Speisesalzzufuhr in Deutschland, gesundheitliche Folgen und resultierende Handlungsempfehlung» betont die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) die Notwendigkeit, die Speisesalzzufuhr zu senken. Mehr noch: Die DGE erwähnt ausdrücklich Brot und Gebäck und empfiehlt dringend (!) eine Beteiligung von Deutschland an nationalen und internationalen Initiativen zur bevölkerungsweiten Reduktion der Speisesalzzufuhr.

Den Begriff der «Geschmackspolizei», mit dem der Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks wiederholt hantiert, halten wir mittlerweile für ziemlich eindimensional. Wenn sich schon (a) die Deutsche Gesellschaft für Ernährung genötigt sieht, eine dringende Handlungsempfehlung abzugeben und (b) Technologien zur Verfügung stehen, den Kochsalzgehalt in Brot und Gebäck ohne Verlust von Vielfalt und Qualität zu senken, dann muss man abrücken können von der Vorstellung, Rezepturen seien in Stein gemeißelt. «Deutsche Brotkultur» heißt nicht, dass diese Kultur im Stillstand verharren muss. Stillstand ist Rückschritt, das weiß jeder Unternehmer.

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