Karlsruhe. (bvg) Die dritte Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat zwei Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Diebstahls von Lebensmitteln aus einem verschlossenen Abfallcontainer eines Supermarkts richteten («Containern»). Zur Begründung führte die Kammer im Wesentlichen aus, dass die Auslegung der Fachgerichte weder gegen das Willkürverbot verstößt noch die Beweiswürdigung verfassungsrechtlich zu beanstanden ist. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und besonders das Ultima-Ratio-Prinzip gebieten keine Einschränkung der Strafbarkeit. Der Gesetzgeber darf das zivilrechtliche Eigentum grundsätzlich auch an wirtschaftlich wertlosen Sachen strafrechtlich schützen.
Mehr zur Vorgeschichte auf webbaecker.de siehe …
- »Containern«: Junge Frauen legen Verfassungsbeschwerde ein (2019-11-11)
- Revision abgelehnt: »Containern« ist Diebstahl (2019-10-16)
Sachverhalt
Die beiden Beschwerdeführerinnen entwendeten diverse Lebensmittel aus einem verschlossenen Abfallcontainer eines Supermarktes. Der Abfallcontainer befand sich in der Anlieferzone des Supermarktes und stand dort zur entgeltlichen Abholung durch den Abfallentsorger bereit. In dem Container werden Lebensmittel entsorgt, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist oder die wegen ihres äußeren Erscheinungsbildes nicht mehr verkauft werden.
Das Amtsgericht verwarnte die Beschwerdeführerinnen wegen Diebstahls gemäß Paragraf 242 Absatz 1 StGB und legte ihnen acht Stunden gemeinnützige Arbeit bei einer Tafel auf. Die Verurteilung zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen blieb vorbehalten. Das Amtsgericht hat insbesondere dargelegt, weshalb das Unternehmen Eigentümer der Lebensmittel geblieben und deren Wegnahme daher strafbar gewesen sei. Gegen die amtsgerichtliche Entscheidung legten die Beschwerdeführerinnen Sprungrevision ein. Im vorliegenden Fall liege eine Eigentumsaufgabe durch den Supermarkt vor. Die Lebensmittel seien daher nicht «fremd» im Sinne des Paragraf 242 Absatz 1 StGB, sondern herrenlos gewesen.
Das Bayerische Oberste Landesgericht verwarf die Revisionen der Beschwerdeführerinnen als unbegründet. Die Auffassung des Amtsgerichts, die Lebensmittel seien fremd gewesen, begegne keinen rechtlichen Bedenken. Auch die Wertlosigkeit einer Sache berechtige Dritte nicht zur Wegnahme. Aus dem Umstand, dass die Lebensmittel zur Entsorgung in einen Abfallcontainer geworfen worden seien, folge nicht zwingend, dass dem Eigentümer das weitere Schicksal der Sache gleichgültig sei. Eine Eigentumsaufgabe komme vielmehr nur dann in Betracht, wenn der Wille vorherrsche, sich der Sache ungezielt zu entäußern. So liege der Fall hier jedoch nicht.
Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügen die Beschwerdeführerinnen die Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Absatz 1 in Verbindung mit Art. 1 Absatz 1 GG sowie die Verletzung ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Absatz 1 GG. Im vorliegenden Fall habe der Supermarkt kein schutzwürdiges Interesse an den weggeworfenen Lebensmitteln, weswegen die Strafbarkeit der Entnahme gegen das Übermaßverbot verstoße. Darüber hinaus sei im Lichte des Art. 20a GG der Gemeinwohlbelang eines verantwortungsvollen und nachhaltigen Umgangs mit Lebensmitteln zu berücksichtigen. Die massenhafte und in vielen Fällen vermeidbare Verschwendung von Lebensmitteln durch Vernichtung sei in besonderer Weise sozialschädlich.
Wesentliche Erwägungen der Kammer
Die zulässigen Verfassungsbeschwerden sind unbegründet.
1. Die maßgeblich an zivilrechtlichen Wertungen orientierte Auslegung der Strafgerichte in Bezug auf das Tatbestandsmerkmal der «Fremdheit» einer Sache im Sinne des Paragraf 242 Absatz 1 StGB verstößt nicht gegen das in Art. 3 Absatz 1 GG verankerte Willkürverbot.
Im Hinblick auf den Wortlaut und Schutzzweck des Paragraf 242 StGB sowie im Hinblick auf die Wahrung der Rechtseinheit und der Rechtssicherheit beruht diese Auslegung auf sachgemäßen und nachvollziehbaren Erwägungen und ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
2. Auch gegen die strafrichterliche Beweiswürdigung ist verfassungsrechtlich nichts zu erinnern.
Die Feststellung, ob die Entnahme von Lebensmitteln aus einem Abfallbehälter eine strafbare Wegnahme einer fremden Sache darstellt, obliegt grundsätzlich den Fachgerichten. Diese haben unter Würdigung der konkreten Umstände des jeweiligen Sachverhalts zu entscheiden, ob die Abfälle durch eine Eigentumsaufgabe gemäß Paragraf 959 BGB herrenlos geworden sind, ob ein Übereignungsangebot an beliebige Dritte vorlag oder ob die Abfälle im Eigentum des bisherigen Eigentümers verblieben.
Die Fachgerichte haben maßgeblich darauf abgestellt, dass sich der Abfallcontainer in der Anlieferzone des Supermarktes und damit auf dessen eigenem Gelände befunden habe und darüber hinaus verschlossen gewesen sei. Zudem hätten die Abfälle zur Übergabe an ein spezialisiertes und vom Inhaber bezahltes Entsorgungsunternehmen bereitgestanden. Schließlich habe das Verschließen der Container eine Reaktion auf vorherige, unbefugte Entnahmen Dritter dargestellt. Aufgrund dieser Umstände sei auf den Willen des Unternehmens zu schließen, dass es weiterhin Eigentümer der Abfälle habe bleiben wollen. Gegen diese Beweiswürdigung ist aus Verfassungssicht nichts einzuwenden.
3. Die Strafbarkeit des Containerns als Diebstahl nach Paragraf 242 Absatz 1 StGB verstößt auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Ultima-Ratio-Prinzip.
Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, den Bereich strafbaren Handelns verbindlich festzulegen. Das Bundesverfassungsgericht kann diese Entscheidung nicht darauf prüfen, ob der Gesetzgeber die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat. Es wacht lediglich darüber, dass die Strafvorschrift materiell in Einklang mit der Verfassung steht. Der Gesetzgeber, der bisher Initiativen zur Entkriminalisierung des Containerns nicht aufgegriffen hat, ist insofern frei, das zivilrechtliche Eigentum auch in Fällen der wirtschaftlichen Wertlosigkeit der Sache mit Mitteln des Strafrechts zu schützen. Im vorliegenden Fall dient die Strafbarkeit des Verhaltens der Beschwerdeführerinnen dem Schutz des Eigentumsgrundrechts nach Art. 14 Absatz 1 GG als Rechtsgut von Verfassungsrang. Der Eigentümer der Lebensmittel wollte diese bewusst einer Vernichtung durch den Abfallentsorger zuführen, um etwaige Haftungsrisiken beim Verzehr der teils abgelaufenen und möglicherweise auch verdorbenen Ware auszuschließen. Bereits das Interesse des Eigentümers daran, etwaige rechtliche Streitigkeiten und Prozessrisiken auszuschließen und keinen erhöhten Sorgfaltspflichten im Hinblick auf die Sicherheit der Lebensmittel ausgesetzt zu sein, ist im Rahmen der Eigentumsfreiheit nach Art. 14 Absatz 1 GG grundsätzlich zu akzeptieren. Der Gesetzgeber hat diese Verfügungsbefugnis des Eigentümers nicht durch eine gegenläufige, verhältnismäßige Inhalts- und Schrankenbestimmung eingegrenzt. Die im Wortlaut des Paragraf 242 StGB angelegte und durch die Fachgerichte konkretisierte kriminalpolitische Grundentscheidung des Gesetzgebers zur Strafbarkeit des Containerns ist deshalb verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Im Übrigen existieren im Straf- und Strafprozessrecht hinreichende Möglichkeiten, im Einzelfall der geringen Schuld des Täters Rechnung zu tragen. Die Ausführungen des Amtsgerichts zur Strafzumessung berücksichtigen die Besonderheiten des Einzelfalles und sind daher verfassungsrechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden.
Ob der Gesetzgeber im Hinblick auf andere Grundrechte oder Staatszielbestimmungen wie beispielsweise den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen nach Art. 20a GG und im Rahmen einer Fortentwicklung von Inhalt und Schranken des Eigentums auch eine alternative Regelung hinsichtlich des Umgangs mit entsorgten Lebensmitteln treffen könnte, ist vorliegend ohne Bedeutung.
WEITERE THEMEN AUS DIESER RUBRIK FÜR SIE:
- EUDR: BMEL begrüßt Verschiebung um zwölf Monate
- Lohnsteuerhilfe: Höhe der Aussetzungszinsen verfassungswidrig?
- Besser bestellen mit den Marvin Vergleichsdaten
- Bürokratieentlastungsgesetz IV kann nur ein Auftakt sein
- BayWa AG: Außerplanmäßige Abschreibungen belasten das Ergebnis
- Bundestag debattiert Jahressteuergesetz 2024
- Agravis AG: investiert deutlich in die Stückgutlogistik
- Özdemir zur EUDR: «Kommissionspräsidentin ist am Zug»
- »HerBo43«: Lidl Herne erreicht Meilenstein
- Globus Markthallen: wollen fünf Standorte abgeben
- Logistikzentrum Lauenau: Vorreiter in der Region
- Marvin und BrotZEIT auf der Südback 2024
- StrongPoint: installiert vollautomatisches Tiefkühllager
- Südzucker: Fallende Preise sorgen für sinkende Prognose
- Systemgastronomie: NGG vertagt Verhandlungen auf November
- Brenntag: weiht größten eigenen Solarpark in Mexiko ein
- Bühler AG: kündigt Integration von Esau + Hueber an
- Strukturreform: Zentralverband treibt seine Modernisierung voran
- Nachhaltig: Kaffeeverband ist «Verband des Jahres»
- DUH gegen Back-Factory: Mehrweg muss immer ausreichend vorrätig sein