Samstag, 5. Oktober 2024

Bundesministerin: «Agrarpolitik kümmert sich zu wenig»

Berlin. (bmu / eb) Im Land der Zuckerrüben-Barone, Weinköniginnen, Total-Herbizid-Experten und vieler anderer Erzeugergruppen, die ihre Interessenvertreter seit jeher fest in der Politik verankert halten, ist es längst nicht mehr verwunderlich, dass eine zeitgemäße Politik für Ernährung und Landwirtschaft – auch Verbraucherschutz – nur zögernd umgesetzt wird und im EU-Vergleich sogar noch zurückfällt. Immer wieder gibt es Belege für Filzokratie, wie zum Beispiel den Alleingang 2017 des zuständigen Ressortministers beim Thema Glyphosat. Andere (Umwelt-) Minister stecken voller Tatendrang, werden aber von Kabinettskollegen rigoros abgebügelt – wie zum Beispiel Barbara Hendricks im Ränkespiel mit Sigmar Gabriel. Fazit: Gute Ideen allein reichen nicht aus. Es bedarf einer gewissen Durchsetzungskraft, um auf dem glatten Parkett der Lobbyisten zu bestehen und den guten Vorsatz ins Ziel zu bringen. Das ist schwer.

Ziemlich weit vorgewagt hat sich unvermutet Svenja Schulze, die amtierende Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMUB). Beim BMU-Agrarkongress 2019 in dieser Woche stand ein «Neuer Dialog zur Zukunft von Landwirtschaft und Umwelt» auf dem Programm. Gefragt waren und sind Ideen und Projekte, wie Landwirtschaft und Naturschutz Hand in Hand gehen können – oder dies heute schon praktizieren. Alle Bürger (m/w/d) sind eingeladen, sich an einer entsprechenden Online-Befragung zu beteiligen. Den Auftakt für die Befragung bildete der Agrarkongress in Berlin, wo die Ministerin mit Vertretern (m/w/d) aus Landwirtschaft, Umweltschutz, Wissenschaft und Zivilgesellschaft diskutierte.

Schulze: Gegenwärtige Agrarpolitik kümmert sich zu wenig

Bundesministerin Svenja Schulze: «Die gegenwärtige Agrarpolitik kümmert sich zu wenig um die Umweltfolgen und gefährdet so die Grundlagen der Landwirtschaft, statt sie zu schützen. Denn Landwirtschaft braucht biologische Vielfalt – so wie wir alle. 2019 wird ein entscheidendes Jahr für den Natur- und Umweltschutz in der Landwirtschaft. Ich setze dabei drei Prioritäten: Ein Aktionsprogramm Insektenschutz mit konkreten und wirksamen Maßnahmen gegen das Insektensterben; eine Neuregelung unseres Umgangs mit Pestiziden, besonders mit Glyphosat; und eine Reform der EU-Agrarförderung, die die Landwirte (m/w/d) für das honoriert, was sie für Umwelt und Gesellschaft leisten.»

Zum dritten Mal hatte das BMU im Vorfeld der Internationalen Grünen Woche seinen Agrarkongress veranstaltet. Diskutiert wurde unter dem Motto «schützen.nutzen.leben. Gemeinsam für mehr Vielfalt», wie die Landwirtschaftspolitik stärker dazu beitragen kann, die Interessen von Landwirten (m/w/d) mit denen von Gesellschaft und Umwelt zusammen zu bringen. Beteiligt waren rund 300 Vertreter (m/w/d) aus Landwirtschaft, Umweltschutz, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft.

Das BMU hat im Oktober konkrete Maßnahmenvorschläge zum Aktionsprogramm Insektenschutz vorgestellt und anschließend mit Bürgern (m/w/d) breit diskutiert. Aktuell ist das Ministerium dabei, die dabei entstandenen Ideen auszuwerten und die Maßnahmenvorschläge zu aktualisieren. Anschließend sollen sie in der Bundesregierung abgestimmt und vom Kabinett beschlossen werden. «Eine Welt ohne Bestäuber wäre eine andere Welt. Uns wird immer bewusster, wie sehr wir von den kleinen Dienstleistern auf unseren Feldern und Beeten abhängen», sagte Schulze in Berlin. «Das Massensterben der Insekten ist evident, darum brauchen wir konkrete Maßnahmen, um es aufzuhalten.»

Pflanzenschutz muss seinen Namen wieder verdienen

Beim Thema Pflanzenschutzmittel hatte Schulze im November einen konkreten Ausstiegsplan aus Glyphosat und strengere Auflagen für alle Pflanzenschutzmittel vorgeschlagen, die der biologischen Vielfalt schaden. «Eine Grunderkenntnis dabei ist, dass es der Artenvielfalt nichts bringt, wenn Glyphosat einfach durch ein anderes Totalherbizid ersetzt wird. Wir brauchen insgesamt einen umweltverträglicheren Pflanzenschutz, damit Pflanzenschutz seinen Namen wieder verdient», erklärte die Ministerin.

Schulze warnte zudem mit Blick auf die aktuellen Verhandlungen zur Reform der viele Milliarden Euro schweren europäischen Agrarförderung, dass die dringend nötigen Fortschritte beim Natur-, Umwelt- und Klimaschutz ausbleiben könnten und Deutschland dabei nur tatenloser Zaungast bleibe. «Deshalb ist jetzt der richtige Zeitpunkt, die EU-Agrarpolitik zu einem Schwerpunkt zu machen», betonte die Bundesministerin.

Wir werden sehen, was am Jahresende davon übrig ist.


In diesem Zusammenhang: Wohin steuert die Landwirtschaft?

Dessau-Roßlau. (uba) Wie wird sich die Landwirtschaft in Zukunft entwickeln? Ist die Konzentration auf die Wirtschaftlichkeit von Betrieben nachhaltig? Diese Fragen versucht eine aktuelle Studie des Umweltbundesamts (UBA) anhand eines umfassenden Indikatorensets zu beantworten.

Die kostenfreie UBA-Studie «Landwirtschaft – quo vadis?: Nachhaltigkeitsbewertung ausgewählter Entwicklungspfade in der Landwirtschaft» (PDF | 2’381 KB) beschreibt zwei Entwicklungspfade für die Landwirtschaft: Der Pfad «Farming» beschreibt ein Zukunftsszenario für eine Landwirtschaft, die auf Kostenführerschaft und dem Ansatz der Rohstoffproduktion beruht. Der Pfad «Agriculture» beruht auf den Prinzipien der Umwelt und Qualitätsführerschaft.

Diese Pfade basieren auf einer Formulierung des ehemaligen EU-Agrarkommissars Franz Fischler und wurden mit Hilfe eines Sets von 29 Indikatoren einer Nachhaltigkeitsbewertung unterzogen. Es zeigt sich, dass der Entwicklungspfad Farming überwiegend negative Auswirkungen auf Nachhaltigkeit hat. Hingegen schneidet der Entwicklungspfad Agriculture unter Aspekten der Nachhaltigkeit deutlich besser ab.